Schneerose (German Edition)
weiß, was er will.
Als Lindsay wieder herauskommt, klopft es an seiner
Zimmertür. Normalerweise tritt seine Familie nach dem ersten Klopfen bereits
ein, ohne ein „Herein“ abzuwarten, doch heute nicht.
„Ja?“, meint Mike nur genervt, während Lindsay
schüchtern zur Tür blickt.
Mrs. Chapman steckt den Kopf zur Tür herein. Auf
ihrem Gesicht liegt ein warmherziges, aber wissendes Lächeln.
„Guten Morgen ihr Zwei. Möchtet ihr gleich
mitfrühstücken?“
Ehe Lindsay etwas sagen kann, ruft Mike bereits
„Lindsay wollte gerade gehen“. Seine Mutter schaut etwas erstaunt von ihm zu
Lindsay, die unbehaglich zu Boden blickt.
„Oh, okay“, sagt seine Mutter und schließt dann
wieder die Tür hinter sich. Lindsay rührt sich nicht von der Stelle, wagt es
nicht, Mike in die Augen zu blicken, während er sich wie der größte Mistkerl
aller Zeiten vorkommt.
„Ich denke, es wäre besser, wenn du jetzt gehst.
Meine Mutter bekommt sonst nur noch etwas in den falschen Hals. Sie bildet sich
jetzt eh schon wieder Dinge ein, die so gar nicht sind.“
„Ach ja, und was soll das sein?“, will Lindsay
wissen und hebt ihm trotzig den Kopf entgegen. Er sieht die Trauer darin, aber
auch das Aufblitzen von Wut.
„Na ja, du weißt schon. Sie denkt bestimmt, wir
wären jetzt zusammen. Aber das ist natürlich Blödsinn. Wir wissen doch beide,
dass es ein Ausrutscher war. Eine einmalige Sache... Stimmt doch, oder?“
Mike versucht, cool zu lächeln, was er noch nie
konnte, und gegen Ende seines Satzes kommt seine Unsicherheit zum Vorschein,
doch Lindsay presst nur verletzt und verärgert ihre Lippen fest aufeinander.
„Easy, wenn du das sagst.“ Ihr typisches ‚Easy’ hört
sich so falsch und unpassend an, dass es Mike fast den Magen umdreht.
Als sie beginnt, ihre Kleider zusammen zu suchen,
ohne ihn weiter zu beachten, erkennt Mike, dass er einen Fehler gemacht hat. Er
benimmt sich total idiotisch und gemein. Er legt seine Hand tröstend auf
Lindsays Schulter, doch sie zuckt wie vom Schlag getroffen vor ihm zurück.
„Spar dir dein falsches Mitgefühl. Ich dachte, du
wärst anders, aber du bist noch viel schlimmer als alle anderen.“, zischt sie
ihm mit feuchten Augen entgegen.
„Es tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, was ich
denken oder fühlen soll. Wir bleiben doch aber Freunde, oder?“
„Freunde tun einander nicht weh, erinnerst du
dich?!“, schleudert sie ihm in Rage entgegen, bevor sie geht, ohne sich auch
nur einmal noch nach ihm umzudrehen. Mikes Herz bebt und sticht. Was hat er nur
getan? Er hat sich nicht besser als Bradley benommen, obwohl er gerade diese
Typen mehr als verabscheut, doch ist er gerade keinen Deut besser als sie.
Gierig saugt Mary die kühle Nachtluft durch die Nase
ein. Mittlerweile ist es schon wieder über einen Monat her, seit sie zuletzt
außerhalb von Moundrell Manor war. Die anderen halten sie wie ein wildes Tier
und behaupten, sie hätte sich nicht unter Kontrolle. Doch Mary sieht das
anders. Wenn man sie immer nur hinter verschlossenen Türen hält, wird sie nie
lernen, sich zu beherrschen. Ihr Blutdurst ist groß, das stimmt. Vielleicht
sogar größer, als der der Meisten, aber sie ist ja auch viel jünger als die
Meisten. Vielleicht braucht ihr Körper deshalb einfach mehr Blut. Außerdem weiß
wirklich jeder Vampir, dass Blut frisch aus einem noch heißen Körper gesogen
nicht mit dem Blut kalter, gestohlener
Konserven aus Krankenhäusern zu vergleichen ist. Es ist leblos und alt.
In der Ferne hört Mary das Rauschen einer Autobahn. Es
erinnert sie daran, wie das Leben durch den Körper der Menschen fließt, wie ein
beständiger Strom. Oft kann sie an nichts anderes als an Blut denken. Manchmal
wacht sie mitten am Tag auf und ihr Verlangen ist so groß, dass sie am liebsten
hinaus in die Sonne rennen würde, um zu sterben, einfach nur um diese
unerträgliche Sehnsucht und die damit verbundene Qual nicht länger spüren zu
müssen. Sie ist nun mal was sie ist.
Verträumt blickt sie hinauf in den Sternenhimmel,
der immer gleich aussieht, egal, wie viele Jahre auch ins Land ziehen. Während
die Erde sich fast täglich verändert, ist der Himmel eine unveränderliche
Konstante. Genau wie Mary. Sie hat sich nicht freiwillig für ihr Leben als
ewige Vierzehnjährige entschieden, doch zu viele Jahrhunderte sind bereits
vergangen, um Orlando deshalb noch böse sein zu können. Ganz im Gegenteil. Er
ist mehr, als sie je in ihrem menschlichen Leben
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