Schneerose (German Edition)
verdrängt
an sie zu denken. Er kann sich nicht erklären warum, aber die ganze Welt
scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Nichts desto trotz wagt er einen
erneuten Versuch, Mary kann ihn ja schließlich nicht für immer hassen.
Wie
so oft steht sie wieder im Eingang zu ihrer gemeinsamen Kajüte und blickt
neugierig auf das Deck. Kaum, dass sie Orlando auf sich zu steuern sieht,
starrt sie stur an ihm vorbei, so als wäre er gar nicht da.
Aus
seiner Tasche kramt er ein kleines Brillenetui und hält es ihr entgegen.
„Hier,
das ist für dich! Dann kannst du auch mal an Deck.“
Mary
schüttelt den Kopf. „Nein, danke!“
„Ach
komm schon, du hast sie dir ja nicht mal angesehen.“ Er öffnet das Etui und
zeigt Mary eine Sonnenbrille mit rubinrotem Gestell, das in der Sonne glitzert.
„Gefällt sie dir?“
Mary
verhält sich weiter abweisend. „Ich nehme keine Geschenke mehr von dir an.“
Orlando
seufzt. „Na gut, willst du sie mir dann vielleicht abkaufen oder gegen etwas
tauschen?“
Irritiert
blickt Mary ihn an. „Womit soll ich dich denn bezahlen?“
„Ein
kleines Lächeln von dir würde mir schon reichen.“
Genervt
rollt Mary mit den Augen.
„Okay,
das ist wohl etwas viel verlangt.“, gibt Orlando zu. „Wie wäre es dann mit
einem Gespräch?“
„Hast
du es so nötig?!“, faucht ihn Mary bissig an. „Warum unterhältst du dich nicht
mit deinem neuen besten Freund Victor? Seit neustem versteht ihr euch doch so
gut.“
„Ah,
darum geht es also immer noch. Du musst ja wohl selbst zugeben, dass Chasity
die Reise niemals geschafft hätte. Niemand hat Claudia gezwungen bei ihr zu
bleiben.“
„Was
hätte sie denn machen sollen? Chasity einfach vollkommen alleine zurücklassen? Da
hätte sie sie ja direkt umbringen können.“
„Wenn
du das so siehst, warum bist du dann überhaupt hier? Du hast sie doch genauso
im Stich gelassen wie wir alle!“
Betreten
senkt Mary den Blick. „Es ist wegen Vivienne. Sie hat gesagt, bevor sie
gestorben ist, dass ich anfangen soll mein Leben zu leben und das versuche ich
gerade. Ich war noch nie in Grönland und dachte es wäre deshalb ein guter
Anfang.“
Orlando
nickt und hält Mary erneut die rote Sonnenbrille hin. „Denkst du nicht, dass du
mehr von Grönland sehen würdest, wenn du auch mal an Deck gehen würdest?!“
Zögernd
ergreift Mary nun doch die Sonnenbrille und schiebt sie sich auf die Nase,
während Orlando zufrieden grinst.
„Komm
die Sonne ist schon wieder am untergehen!“, fordert er sie auf und streckt ihr
seine Hand entgegen, die in dicken Robbenfellhandschuhen steckt. Zu seiner
Überraschung nimmt Mary mit ihren weißen Handschuhen aus Polarfuchsfell sogar
seine Einladung an und folgt ihm mit vorsichtigen Schritten auf das vereiste
Deck. Für beide ist es Jahrhunderte her, dass sie sich zuletzt in der Sonne
bewegen konnten. Auch wenn die warmen Strahlen nicht durch ihre dicke Kleidung
dringen können, ist es ein befreiendes Gefühl. Sie sind dem Gefängnis der
Finsternis entflohen.
Ein
plötzlicher Ruf des menschlichen Kapitäns, erweckt ihre Aufmerksamkeit.
„Blauwal! Blauwal!“
Sofort
stürzen sie zur Rehling. Circa fünfzig Meter in Fahrtrichtung ragt ein Koloss
aus den Wellen. Im nächsten Augenblick schwingt die gigantische Schwanzflosse
in die Höhe. So hoch wie ein Turm spritzt die Wasserfontäne in die eisige Luft
und weht den leicht fauligen Atem des Blauwals in ihre Nasen.
Bereits
im nächsten Augenblick ist das Tier verschwunden und hinterlässt nur noch eine
Schaumspur auf der aufgewühlten See. Es ist das erste Mal, dass sie das größte
Tier der Welt zu Gesicht bekommen. Der Blauwal ist eine vom Aussterben bedrohte
Rarität. Noch seltener als die Vampire unter den Menschen und doch fühlt sich
Orlando dem Tier seltsam verbunden. Die Menschen haben sich schon immer vor dem
Fremden gefürchtet und versucht es zu bekämpfen, ob es nun ein Blauwal oder ein
Vampir ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Es mangelt ihnen an Verständnis für
andere Lebensformen, so friedlich sie auch sein mögen. Der große Blauwal ist
nicht mal ein Fleischfresser, aber vielleicht ist gerade das sein Fehler. Er
ergibt sich kampflos seinem Schicksal.
Wie
zum Tanz verbeugt sich Orlando vor Mary und lässt sie sich an seiner Hand
einmal um die eigene Achse drehen. Ein leises Kichern dringt aus ihrer Kehle,
was sie sofort mit zusammengekniffenen Lippen unterdrückt.
„Weißt
du eigentlich, dass deine Handschuhe vor bösen
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