Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Quälerei! Die Mädchen interessieren ihn nicht mehr. Seine Schritt-für-Schritt-Therapie, dieses Umlenken seines Triebs in eine fast schon irrsinnige Form von Mathematik, war aufgegangen. Die Pläne. Die Vorauskalkulation der Wege, das stundenlange Rumsitzen im Auto. Das war doch nichts anderes gewesen als der Versuch, seine Geilheit in dumpfen Handlungen zu erschöpfen, sich vor Augen zu führen, was sein Trieb eigentlich war. Stumpfsinn. Endlose Wiederholungen gleicher Vorgänge.
Aber er merkt ja schon seit einiger Zeit, dass er dabei ist, wieder ein Mensch zu werden. Genesungsvorgänge kommen immer in Wellen! Er hatte an den fachlichen Gesprächen in Nancy so konzentriert teilgenommen wie lange nicht mehr. Er war wieder das, was er war. Ein Lehrer. Die abendlichen Observationen dagegen waren ihm fast schon wie eine Pflicht vorgekommen. Zwangshandlungen! Selbst auferlegte Zwangshandlungen. Bestrafung! So weit hatte das also funktioniert. Jetzt würde die nächste schwierige Aufgabe auf ihn zukommen. Was mache ich mit der Zeit? Die Observationen hatten ja seine gesamte Freizeit ausgefüllt. Am Wochenende fuhr seine Frau immer zu ihrer Mutter, weil die ihre Einsamkeit nicht aushielt. Ihm ist klar, dass das Zuviel an Zeit ein entscheidender Faktor jeder Suchtgefahr ist. Und so begibt er sich für eine Weile in eine Spekulation hinein, diesehr reizvoll ist. Er kann es zwar nicht genau formulieren, aber er ahnt, dass es da einen Zusammenhang gibt. Zwischen Trieb und Zeit. Das ist fantastisch! Es gibt eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem höchsten Grad an Abstraktion und dem ursprünglichsten Motiv allen Handelns.
Es ist ein langer Weg, heraus aus dem Dreck. Aber es ist ein erfrischender Weg. Ja! Erfrischt. Das Wort beschreibt sein Gefühl am besten. Wie klar und schön ihm die Welt vorkommt. Kein Wunder, wenn man sie nicht mehr aus der Perspektive des Drecklochs wahrnimmt! Denn es war ein Dreckloch gewesen und er ein perverses Schwein. Da hatte es für ihn nie einen Zweifel gegeben. Was für ein Recht hatte er sich da herausgenommen? Er hatte sich wie Gott aufgeführt! So getan, als wären die Mädchen Objekte. Dabei kannte er sie doch aus der Schule, wusste, dass sie nicht anders waren als er oder irgendwer sonst auf der Welt. Vielleicht war das sogar das Schlimmste an allem gewesen. Seine unglaubliche Arroganz.
Heute Morgen ist ihm ein Gedanke gekommen, der eigentlich logisch war. Du musst es wiedergutmachen! Er sah sich schon als freiwilligen Sozialarbeiter. Aber genau das wäre falsch. Übertrieben. Die Normalität war seine Rettung, nicht das Besondere.
Also, was mache ich mit meiner Freizeit?
Sein Gewächshaus und die Orchideen kommen nicht infrage. Die sind für ihn unlösbar mit den Mädchen verbunden. Gerade deshalb, weil sie als Ablenkung nie richtig funktioniert haben. Du musst ganz neu ansetzen! Er überlegt also eine Weile, was er früher gemacht hat. Vor den Orchideen, als noch alles normal war. Er erinnert sich daran, dass er mal Modellflugzeuge gebaut hat. Mit Leidenschaft! Noch bis in seine Referendariatszeit hinein. Warum habe ich damit aufgehört? Der Gedanke mit den Flugzeugen gefällt ihm. Vielleicht hat seine Tochter ja auch Spaß daran. Er geht schon ganz auf in seinen Vorstellungen. Erinnert sich an Details. Das Balsaholz, das Feststecken der Spanten auf den Plänen, das Ausmessen der Winkel mit dem Geodreieck, das Verkleben.Die kleinen Motoren! Richtige kleine Dieselmotoren waren das und…
Am Armaturenbrett leuchtet eine Lampe auf.
Schlicht in ihrer Farbe, aber eindeutig in ihrer Weisung. Benzin ist bald alle.
Die nächsten zehn Minuten denkt er weder an Schuld noch an Mädchen, er denkt an Benzin. Er hat Glück, biegt von der Straße ab. Die Tankstelle ist riesig. Grell erleuchtet. Menschenleer.
Er tankt.
Bevor er bezahlt, stöbert er in den Zeitschriften. Da! Eine Zeitschrift für Modellbauer. Gleich mitnehmen, gleich anfangen! Der Rentner, bei dem er bezahlt, ist schwerhörig. Auch das kommt ihm heute wunderbar irdisch vor.
Als er zu seinem Auto zurückgeht, sieht er, dass der rechte Vorderreifen zu wenig Luft hat. Er blickt sich um. Eine Station zum Luft nachpumpen ist nicht zu sehen. Bis nach Hause wird’s schon noch gehen!
Er steigt ein. Fährt an der Tankstelle vorbei. Ach da!
Die Station zum Nachfüllen der Reifen ist hinter der Tankstelle.
Er sieht das Mädchen sofort. Sie und ihren kleinen Motorroller. Motor aus. Leise. Sein Wagen rollt auf die Station zu, das
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