Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
etwas damit zu tun haben, dass wir mal Raubtiere waren.
»Ja, also, Madame … Es macht ja keinen Sinn, dass ich Sie hier weiter belästige. Ich hatte eigentlich nur eine kleine Frage an Ihren Mann. Vielleicht können Sie mir da weiterhelfen.«
»Mal sehen.«
»Ihr Mann hat seine Ausbildung in Hannover gemacht.«
»Ja. Er hat dort seine Referendariatszeit absolviert und wurde dann auch von der Schule übernommen.«
»In Hannover?«
»Ja.«
»Und seit wann sind Sie hier?«
»Seit etwas über vier Jahren.«
»Ihr Mann sprach von einer beruflich schwierigen Zeit. Was könnte er damit gemeint haben?«
»Sicher den Wechsel hierher. Also zu seiner neuen Schule in Benningstedt.«
»Was war an dem Wechsel schwierig?«
»Ich wollte unbedingt hierher ziehen. Erstens weil meine Eltern hier in der Gegend leben. Mein Vater hat früher in Fleurville im Kirchenchor gesungen und …«
»Sie sind also hierher gezogen.«
»Ja. Mein Mann stammt aus Grimauds, und mir gefiel es hier viel besser als in Hannover. Außerdem wollten wir nicht, dass unsere Tochter in einer Großstadt aufwächst. Ich bin etwas ängstlich.«
»Verstehe.«
»Pierre hat also seine Versetzung beantragt, und wir sind hergezogen. Aber dann wurde die Stelle in Benningstedt doch nicht so schnell frei, und Pierre musste eine Weile als Nachhilfe- und Aushilfslehrer arbeiten. Fast ein Jahr lang. Wir haben uns meistens nur am Wochenende gesehen.«
»Wo hat er als Aushilfslehrer gearbeitet? In Hannover?«
»Nein, in Saarbrücken.«
»Vor vier Jahren, sagten Sie, oder?«
»Ja, vor vier Jahren.«
Als Ohayon zurück ins Kommissariat kommt, ist es fast 19 Uhr. Er hat Glück, Grenier ist noch da. Allerdings ist sie nicht gerade begeistert, als sie ihn sieht.
»Du siehst doch, dass ich zu tun habe!«
Ohayon lässt sich nicht abwimmeln. Er weiß, was das, was er herausgefunden hat, bedeuten kann. Wenn er recht behält, sind hier in der Gegend alle Mädchen zwischen vierzehn und siebzehn in akuter Gefahr.
»Es ist wichtig, Grenier.«
»Worum geht’s denn überhaupt?«
»Um den Mord an Geneviève Mortier.«
»Das ist jetzt ein Witz, oder?«
Es ist kurz vor drei Uhr nachts, als er in seinem Hotelzimmer ankommt, und seine Stimmung ist noch schlechter als vorher. Es ist sein letzter Abend in Nancy, und am Ende hat ihm die Stadt doch kein Glück gebracht. Immerhin weiß er jetzt, woran er ist. Er hat sich geirrt. Die Observationen verschaffen ihm nicht die Befriedigung, die er sich eingebildet hat. Denn es ist Einbildung gewesen, weiter nichts. Der Versuch, seiner Geilheit zu entkommen, indem er sich darauf beschränkt, die Mädchen zu kontrollieren, ihre Bewegungen im Voraus zu kennen, wie ein Schachspieler, das ist eben nur das, was es ist. Ein Spiel.
Er hat das erwählte Mädchen jetzt schon den zweiten Abend verfolgt. Aber das Spiel mit dem Observieren reicht ihm nicht mehr. Ob es an ihr liegt? Während er sie observierte, hatte er versucht, das rauszufinden. Jetzt ist er sicher. Seine Begierde gilt ihr, nicht seinem lächerlichen Spiel. Er hat sich dabei ertappt, dass er sich langweilte, wenn er in der Nähe des
Riverboat
darauf wartete, dass sie sich auf den Weg nach Hause machte.
Er zieht sich aus. Es ist nichts passiert hier in Nancy. Er hat seine Fortbildung absolviert und fährt morgen zurück, ohne eine Straftat begangen zu haben. Das ist gut.
Er legt sich ins Bett.
Es lässt ihm keine Ruhe. Noch bevor er einschläft, hat er seine Gedanken geordnet. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er hört auf damit. Und zwar vollständig. Oder er geht den Weg zu Ende. Die Zeit der Observationen ohne Konsequenz ist vorbei.
Grenier hat noch nie in Ohayons Auto gesessen. Der riesige Schlitten hat vorne eine durchgehende Sitzbank, die mitglattem Leder bespannt ist. Zum Glück verhindert der Sicherheitsgurt, dass sie bei jeder zweiten Kurve zu Ohayon rüberrutscht.
»Du sitzt da, als ob ich dich zur Schule fahre!«
Ohayon lacht über seine Bemerkung, und Grenier nimmt ihre Aktenmappe vom Schoß, stellt sie auf den Boden.
Ohayon ruft noch mal in Saarbrücken an, hat wieder kein Glück. Vera ist noch nicht im Büro. Es ist erst Viertel vor acht.
Ohayon sieht zu Grenier rüber.
»Wie du da sitzt! So schlimm ist das ja nun auch nicht, dass wir nach Saarbrücken fahren.«
»Doch. In einer halben Stunde sucht Roland mich und fragt, was mit den Fahrgestellnummern ist, und ich bin nicht da. Du hättest ihm sagen müssen, was du rausgefunden
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