Schneesterben
vor seiner Geburt gestorben, und die Familie hat das nie verkraftet«, sagte Marie resolut. »Habt ihr schon gehört, daß Sophie Bachmann wieder durchgedreht ist?«
Sophie Bachmann wohnte ein paar Kilometer östlich, in Rottbergen, war mindestens sechzig und im Herzen immer noch ein Blumenkind, das ans Zeitalter des Wassermanns glaubte.
»Hat sie wieder bei Vollmond Fruchtbarkeitstänze aufgeführt?« Bremer hatte sie einmal auf der Kirmes tanzen sehen.
Marie kicherte. »Nein – sie hat auf dem Marktplatz gestanden und deklamiert. Klassisches Theater. Daher kommt sie ja.«
Wen das Landleben einfängt, den läßt es nicht mehr los, dachte Paul Bremer.
Gottfried war still geworden. »Du kannst wieder Eier haben, wenn du willst«, sagte er schließlich, ohne aufzusehen. »Die Hinkel legen schon ganz ordentlich.«
Wenn Gottfrieds Hühner wieder Eier legten, war das Frühjahr nicht fern. Bremer fühlte eine raumgreifende Sehnsucht in sich hochsteigen, Sehnsucht nach Licht und Wärme. Und nach Anne.
Dann hörte er das Auto. Aber es war nicht das gelbe Auto mit der Post, sondern der grüne Opel mit dem weißen Schriftzug. Atilla Gümüs stieg aus.
»Und?« Gümüs hielt Gottfried die breite Pranke hin.
»Was macht dein Federvieh? Wieder eine Medaille gewonnen?«
Gottfrieds Gesicht klarte auf. Atilla war einer der wenigen, die sich auf dieses Thema verstanden. »Den zweiten Preis. Für meine Stallhasen.«
»Für deine Mecklenburger Schecken?«
»Nein. Diesmal sind’s die Deutschen Widder.«
»Was fütterst du?«
Während Gottfried jede einzelne Maßnahme zur Hervorbringung von samtweichen Kaninchenpelzen und glänzendem Gefieder mit der jeweils korrekten Farbtönung und -Zeichnung erörterte, begleitet von Gümüs’ sachkundigen Kommentaren »Ah – ja«, »Ja dann« und »Ach so«, hatte der Hund den Gedanken an einen Spaziergang aufgegeben. Franz lag Herrchen zu Füßen, den schönen Kopf auf die braunen Pfoten gelegt, und Bremer schickte sich an, wieder an seinen Schreibtisch zu gehen.
Endlich holte Gümüs ein Foto aus der Brusttasche.
»Habt ihr den Mann schon mal gesehen?«
Bremer kriegte einen trockenen Mund, als er das Foto sah. Er nickte.
8
Frankfurt am Main
F rau Kollegin?« Oberstaatsanwalt Zacharias schaute mit übertrieben hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hinüber. »Ich war mir sicher, Sie hätten zum angesprochenen Sachverhalt noch etwas Zielführendes beizusteuern.«
Karen verließ nur ungern ihren Tagtraum, um in die Wirklichkeit und ins Zimmer des Abteilungsleiters zurückzukehren. OStA Zacharias tippte sich mit dem Füllfederhalter gegen die Vorderzähne und schaute beifallheischend in die Runde. Wenzel guckte amüsiert, Kollegin Daun gelangweilt, und H2O, wie alle hier StA Hermano Ortiz-Soto de Ortega nannten, aber nur hinter seinem Rücken, lächelte überheblich. Es war, meinte sie sich zu erinnern, in der Konferenz bis eben noch um die Sauberkeitsstandards der Reinigungsfirma gegangen, die sich nicht, meinten jedenfalls einige der Kollegen, auf dem durchschnittlichen mitteleuropäischen Niveau befänden.
Und das sagen ausgerechnet diejenigen, die zu Hause nicht wissen, wie der Staubsauger aussieht, dachte sie.
»Mir ist nur wichtig, daß mein Schreibtisch nicht durcheinandergebracht wird.«
Alle lachten.
»Das würde niemand wagen!« Wenzel grinste.
»Wir sind schon etwas weiter, ähm, werte Kollegin. Es geht um den Dienstplan, nun, da Kollegin Buddensiek sich verabschiedet hat in den, nun ja…«
»Mutterschaftsurlaub«, sagte Eva Daun mit zusammengebissenen Zähnen. Es war das Wort für Mehrarbeit – für die anderen.
Karen Stark nahm die neue Arbeitsteilung zur Kenntnis und ließ sich dann wieder von der Wolke tragen, auf der sie seit ein paar Monaten saß. Seit Weihnachten, genauer gesagt. Ich bin verliebt, dachte sie, noch immer erstaunt darüber wie am ersten Tag. Das erste Mal seit … ach was, seit viel zu vielen Jahren, ganz einfach.
»Und wenn sich die geschätzte Kollegin Stark wieder uns und der Welt zuwendet, dann wären wir für heute durch.« Karen fühlte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Jemand lachte. Sie mußte rot geworden sein. Hoffentlich sah ihr niemand an, an was sie soeben gedacht hatte.
Sie hastete zurück ins Büro. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Akten und Laufmappen, mittendrin thronte ein Bund gelber Mimosen. Das mußte ja wirklich jedem auffallen. Sie hielt die Nase in die flauschigen duftenden Blütenbälle. Und dann die
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