Schneesterben
Ein Blick sagte ihr, daß es einer der Fälle war, die sie der lieben Kollegin Buddensiek zu verdanken hatte.
Manfred Wenzel stutzte und blätterte durch die Akte.
Karen nahm sie ihm aus der Hand. Ein Leichnam war gefunden worden, in einem Wäldchen nördlich von Frankfurt. Der Leichnam war männlich, zwischen dreißig und vierzig, Verwesungszustand minimal, Fraßschäden an Körper und Kopf. Todeszeitpunkt: irgendwann vor dem Großen Schnee. Oder mittendrin. Der Schnee hatte die Leiche bedeckt, das Tauwetter hatte sie aufgedeckt. Nicht vermißt gemeldet.
Wer nicht vermißt wird, gehört selten zu den Teilen der Gesellschaft, auf die die Mehrheit wert legt. Sie tippte auf Erfrieren im Gefolge von Trunkenheit. Sie legte die Akte auf den Stapel rechts vorn. Vor dem Obduktionsbericht würde sie in dieser Sache nichts unternehmen müssen.
»Meinst du, du kämst mit dem Rest des Lebens allein klar?« fragte Wenzel.
Sie strahlte ihn an. »Danke«, sagte sie.
9
Feldern
W issen Sie, wo Ihr Mann ist, Frau Regler?« Die Frau im Krankenbett drehte den Kopf zu ihm hin und sah ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf. Was für Augen, dachte Gregor Kosinski. So ein Blau gibt es selten. Und sie mag ihr Gedächtnis verloren haben, aber sie sieht nicht aus, als ob sie ihren Verstand eingebüßt hätte.
»Kriminalhauptkommissar Gregor Kosinski, Sie erinnern sich vielleicht«, sagte er und deutete dann zu Atilla, der an der Fensterbank lehnte. »Und das ist Kriminalkommissar Atilla Gümüs. Wie Gemüse…«
»… ohne e und mit zwei ü«, ergänzte Atilla müde. Krista Regler lächelte. Wenigstens bei einer der Anwesenden schien der alte abgestandene Scherz noch anzukommen.
»Also nicht, aha.« Kosinski blätterte im Notizblock.
»Uns ist da nämlich noch einiges unklar.« Er blickte auf. Sie blickte ruhig zurück.
Gümüs am Fenster wechselte das Standbein. Kosinski wünschte, er würde sich setzen.
»Soweit wir das Geschehen rekonstruiert haben, ist Ihr Wagen, also der Wagen Ihres Mannes, unweit von Usingen gesehen worden, am Abend bevor man Sie frühmorgens im Wald bei Rottbergen fand.«
»Unterkühlt und verwirrt«, ergänzte Gümüs mit einer Stimme, als mache er Krista daraus einen persönlichen Vorwurf. »Die beiden Jäger kamen keine Minute zu früh.«
»Ihr Auto, also das Auto Ihres Mannes – erinnern Sie sich, ob einer von Ihnen beiden damit einen Unfall gehabt hat?« Krista preßte die Lippen zusammen. Aber sie wandte den Blick nicht ab. Kosinski griff in die Tasche, holte eine Zigarettenschachtel heraus, betrachtete sie und steckte sie wieder ein. »Die Schäden sind eigentlich nicht zu übersehen.«
»Gebrochene Streuscheibe des linken Frontscheinwerfers, massive Einschlagstelle des unteren Eckbereichs fahrerseitig der Frontscheibe, Schleifspuren an der vorderen Stoßfängerverkleidung.« Gümüs leierte den Sachverständigenbericht herunter wie auswendig gelernt. Kosinski nickte ihm zu.
Krista Regler seufzte. »Sie wissen, daß ich mich nicht erinnere.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen das glauben soll.« Kosinski spürte Atillas Unruhe dort am Fenster. Sie hatten sich erst gestern gestritten – nein: auseinandergesetzt über die richtige Art und Weise, in einer Ermittlung vorzugehen.
»Du läßt ihnen viel zuviel Zeit«, hatte der Jüngere gesagt.
»Und du verschreckst sie!«
Sie hatten sich in die Augen geschaut und tief durchgeatmet. Atilla sah aus, als ob er »Alter Sack!« dachte, und Kosinski dürfte meilenweit sichtbar »Mach du erst mal meine Erfahrungen!« auf der Stirn getragen haben.
»Frau Regler, diese Schäden könnten auf einen Verkehrsunfall schließen lassen. Es sieht ganz so aus, als ob mit dem Auto Ihres Mannes etwas – oder jemand – überfahren oder zumindest angefahren worden wäre.« Er beobachtete sie scharf. Sie verzog keine Miene.
»Warum saßen Sie auf dem Beifahrersitz, als man Sie fand?«
Kosinski runzelte die Stirn. Atilla hatte schon wieder diese Schärfe in der Stimme, die nicht nur unangemessen, sondern meistens auch völlig unfruchtbar war.
»Anders gefragt: Hat Ihr Mann mit dem Wagen womöglich einen Unfall verursacht und Sie dann im Wald allein gelassen?«
Krista Regler setzte sich auf. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich fassungsloses Erstaunen ab.
»Thomas? Was für ein Unsinn!«
10
Frankfurt am Main
S ie war viel zu früh im Büro, außer ihr war niemand da. Das Zimmer roch ungelüftet. Karen Stark war mit ein paar Schritten am Fenster und
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