Schneesterben
Job.
Immerhin gab es die Aussicht auf ein gemeinsames Wochenende. Donnerstag in zwei Wochen, nach Dienstschluß, wollten sie beide ins Elsaß fahren und essen und trinken. Und wandern. Und sich lieben. Es kam ihr unendlich lang vor bis dahin.
Der Obduktionsbericht auf dem Stapel vorne links hatte noch immer nicht die richtige Akte gefunden. Sie blätterte ihn durch. »Der Kopf ist mit bis zu 6 cm langen, blonden Haaren dicht bewachsen.« Mann oder Frau? »Die äußeren Geschlechtsteile sind gehörig gebildet, die Vorhaut fehlt.« Also Mann.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken, es kam vom Boden, dort, wo sie die Handtasche fallengelassen hatte. Sie lächelte in sich hinein, während sie nach dem Mobiltelefon suchte, irgendwo da unten zwischen Lippenstift, Haarbürste, Papiertaschentüchern und Schweizer Taschenmesser. Endlich hielt sie das Gerät in der Hand. Eine SMS. Von Gunter. »Ich vermisse dich.« Fast wäre sie errötet. Noch bevor sie mit der Antwort an ihn fertig war, klingelte das Telefon.
»Aha.« Sie hatte keine Ahnung, von welcher Sache die Rede war. Fieberhaft begann sie, den Stapel mit der unerledigten Arbeit der lieben Kollegin Buddensiek zu durchsuchen. »Also die Frau…« Sie lauschte dem Ermittler mit dem unaussprechlichen Namen, mit dem sie bislang noch nie zu tun hatte. Natürlich, die Liebe. Was taten die Menschen nicht alles aus Liebe. Sie war sich nicht sicher, was sie für Gunter zu tun bereit wäre – außer sich einen Tag außerplanmäßig frei zu nehmen. Und wie weit würde er für sie gehen? Meilenweit oder so weit die Schuhe tragen? Seine waren maßgefertigt. Die hielten eine ganze Weile. Sie mußte ein unziemliches Geräusch gemacht haben, die Stimme am anderen Ende der Leitung unterbrach ihren Redefluß.
»Nein nein, schon gut, ich höre zu«, sagte sie. Der Ehemann hatte wahrscheinlich aus Eifersucht den Rivalen umgefahren, so sah es jedenfalls aus, und dann die Frau dem sicheren Tod ausgesetzt.
»Worauf wartet ihr noch?« hörte sie sich sagen. Die Stimme am Telefon wiegelte ab. Vielleicht müsse man doch erst noch die Frau fragen, ob…
»Dann fragen Sie«, sagte Karen und unterbrach das Gespräch.
Der Obduktionsbericht. Der würde zu dem geschilderten Fall passen. Aber wo hatte sie ihn hingelegt? Sie begann, Aktendeckel und Laufmappen auf dem Fußboden zu verteilen. Hoffentlich sah sie niemand so. Das hatte es noch nie gegeben, daß sie mit ihrer Arbeit derart in Verzug war. Was Liebe so alles bewirkte – Schwangerschaften zum Beispiel. Gratuliere, Kollegin Buddensiek.
Und Pflichtvergessenheit, fügte ihre kritische innere Instanz hinzu. »Spielverderberin«, murmelte Karen.
Als Eva Daun im Türrahmen erschien und »Kommst du essen?« rief, merkte sie, daß es schon Mittag war. Sie winkte abwehrend. Keine Zeit. Außerdem könnte sie gut und gern auf 5 Kilo Lebendgewicht verzichten. Der Feinschmecker Gunter hatte natürlich eine makellose Figur; wenn sie nur an seine schmalen Hände dachte, an seine Handgelenke, an seine Hüften, seine langen Beine…
Fast hätte sie die erste Verhandlung des Nachmittags in der Sache Darius verpaßt. Die Angelegenheit endete mit einem Vergleich. Ihr war es recht.
Als sie nach zwei weiteren Verhandlungen zurückkehrte ins Büro, um die Handtasche zu holen, klingelte das Telefon. Gunter, dachte sie. Endlich ruft er an. Ungeduldig griff sie nach dem Hörer. Und dann ließ sie sich auf den Schreibtischsessel sinken.
»Die Frau soll was gesagt haben?« Das gab der Sache eine neue Wendung. Offenbar hatte nicht der Ehemann, sondern seine Frau ihren Geliebten umgefahren. Die unbekannte männliche Leiche. Sie hatte die Akte mittlerweile gefunden und überflogen.
»Und warum?« Warum wohl. Die alte Geschichte, dachte Karen. Irgendwann haben sie immer etwas Wichtigeres zu tun. Wahrscheinlich hat er sie hingehalten. Sie gelockt, sie wieder fallengelassen. Sie hofiert, sie brüskiert. Karen merkte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie haßte Männer, die nicht mit offenen Karten spielten.
»Ich werde mich um das Erwirken eines Haftbefehls bemühen«, sagte sie. »Gute Arbeit.«
Sie diktierte in Gedanken die Anklageschrift. Kurz fiel ihr auf, daß das Opfer dabei nicht unbedingt besser wegkam als die Täterin. Dann war der Gedanke verflogen. Sie legte die verbliebenen Papierstapel auf dem Schreibtisch auf Kante und rief die Richterin an. Und, ganz zum Schluß, Paul Bremer. Aber er nahm nicht ab.
Endlich packte sie ihre Tasche und verließ das
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