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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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und hielt ihm die Hand hin, um ihn hochzuziehen. »Bei guter Führung kommst du nach oben«, sagte er.
    Nach dem Mittagessen stand Pjotr wieder am Fenster, Lessie ging wie ein Zootier von der Tür zum Klo und wieder zurück und sogar Akif war unruhig. »Mittwochs ist Einkaufstag«, sagte er schließlich.
    Regler zog fragend die Augenbraue hoch. Akif schüttelte den Kopf. »Das auch. Das kommt morgen, das macht Eule.«
    »Wenn du mal was brauchst – frag’ Eule«, hatte Akif in konspirativem Ton gestern abend gesagt. Eule war das, was es im Knast angeblich nicht gab: ein korrupter Justizangestellter. Der Grüne hieß, so stand es auf dem Namensschild am Pullover, Detlef Merkel und trug eine randlose, getönte Brille. Regler hatte ihn schon am ersten Tag unsympathisch gefunden. Er wirkte unterwürfig und sadistisch zugleich. Aber gegen Geld besorgte der Mann offenbar alles. Alles, außer Frauen. Zigaretten, Schnaps, Handys, Koks. Und Muskelaufbaupräparate, die Akif und Pjotr im Akkord schluckten, Oxandrolon, ein anaboles Steroid. Regler kannte den Stoff. Er fragte sich, wieviel Eule allein an Akif verdiente, der sich jeden Tag auch noch zwei, drei Nasen Koks genehmigte. Wie alle Gauner spürte Eule die Verachtung, die Regler ihm entgegenbrachte.
    »Unten ist ein Lebensmittelgeschäft«, sagte Wolfgang und schwang sich von der Pritsche. »Einmal die Woche kannst du einkaufen – wenn du Geld hast.« Wolfgang wirkte heute fast fröhlich.
    »Wolfgang – weißte, also…« Harun sah aus, als ob er gegen den Koran verstoßen hätte.
    »Eine Stange«, sagte Wolfgang gleichgültig. »Das war verabredet. Und wenn du damit nicht überkommst, stelle ich den Schriftverkehr eben ein.« Er breitete die Arme aus und lächelte Harun an, der geschrumpft zu sein schien. »Es liegt ganz bei dir.«
    Endlich öffnete sich die Tür zur Freistunde. Regler fühlte sich verloren in der unüberschaubaren Menge von Männern, viele in Anstaltskleidung, die aus den Zellen strömten und den überglasten Gang hinunter zum Hof gingen. Viele begrüßten einander überschwenglich. Er verstand nicht ein einziges Wort. Auch Akif hatte sich bei einem Mann eingehängt und redete auf ihn ein – dem Sound nach türkisch.
    Regler war allein und im Weg. Je unsicherer er sich fühlte, desto häufiger wurde er angerempelt, aus dem Weg geschoben, angeraunzt. »Los los!« rief Eule und gab ihm mit der flachen Hand einen Schlag auf die Schulter. Thomas spürte, wie sein Körper ganz ohne sein Zutun reagierte. Sein Verstand wollte »Fassen Sie mich nicht an!« sagen und die Hände in Abwehrbereitschaft bringen. Aber die älteren Kontrollinstanzen des Willens ließen ihn die Schultern einziehen und beiseite gehen. Ihm wurde übel vor Ekel – vor sich selbst.
    Bald kamen ihm Männer mit großen Papiertüten entgegen. Als er im Laden eintraf, gab es keine Zigaretten und keinen Kaffee mehr. Aber Orangensaft bekam man noch und Katenbrot, geschnitten, in Tüten. Käseecken und Leberwurst. Sexhefte. Auto, Motor, Sport.
    Ihn reizte nichts.
    Auch im Hof, auf dem sich die Männer für die Freistunde sammelten, war er allein. Akif und Pjotr und eine Gruppe anderer, die er nicht kannte, steckten an einer Ecke des Gevierts die Köpfe zusammen. Die wachhabenden Grünen scherte das nicht, sie saßen auf einer der Steinbänke in der Sonne, der eine schien eine hochkomische Geschichte zu erzählen, wenn man nach dem Grinsen des anderen ging.
    Abrupt löste sich der Pulk Männer auf und Akif kam lächelnd auf ihn zu. Widerwillig stellte Thomas fest, daß es ihn beruhigte, nicht mehr allein herumzustehen.
    »Und? Hast du was gekauft, Doktor?« Thomas schüttelte den Kopf und versuchte, dem kleineren Mann über die Schulter zu blicken. Akif drehte sich so, daß er ihm den Blick versperrte. Er lächelte wieder. Und dann trat er zur Seite. Hinten, in der Ecke, vor der sich die Männer eben noch zusammengerottet hatten, lag einer am Boden.
    »Ich bin Arzt«, sagte Thomas rauh. »Laß mich…« Er sah hinüber zur Steinbank. Die beiden Bediensteten in Grün interessierten sich noch immer nur für einander.
    »Doktor.« Akif legte ihm die Hand auf den Oberarm und schüttelte langsam den Kopf.
    Thomas guckte zu den Grünen, dann zu der regungslosen Gestalt hinten in der Ecke und schließlich wieder in Akifs Gesicht, das eine Mischung aus Sorge und Belustigung zeigte.
    »Kümmer’ dich nicht um sowas.« Akif lächelte wieder.
    »Ich will mir keine Sorgen um dich machen müssen.«

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