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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Flußpferd kurz vor dem Anlauf.
    »Es käme auf einen Versuch an«, sagte Akif und grinste breit.
    »Akif – laß mich.« Thomas flüsterte. Dann ließ er sich aufs Bett fallen.
    Er schloß die Augen, aber es gelang ihm nicht, die Bilder zu ordnen, die in seinem Kopf kreisten. Die grellsten Schlagzeilen enthielten das Wort »Kindermörder!« Er sah das Krankenhaus. Den Operationssaal. Sah die Kurven auf den Monitoren, in dem Moment, in dem sämtliche Maschinen Alarm schlugen. Als der Kreislauf des kleinen David zusammenbrach, das Herz erst raste und dann aufhörte zu schlagen.
    Dann der Moment, in dem er die Schadenfreude in Zorkos Augen wahrnahm. Die mißtrauischen Gesichter der Mütter seiner kleinen Patienten. Einmal Kindermörder, immer Kindermörder. Er sah sich mit einem großen weißen Plakat vor der Brust auf einem Platz stehen, sah Menschen vorbeigehen, auf ihn zeigen, lachen. Und dann nach ihm treten, ihn schlagen, ihn bespucken. Kindermörder.
    Er versuchte, wieder langsam zu atmen, seine Gedanken zur Räson zu bringen. Warum bin ich hier? Weil ich gestanden habe, einen Mann getötet zu haben. Kein Kind.
    Er mußte trotz allem eingedämmert sein, denn er erwachte von einem Geräusch, das sich unterschied von dem, das Pjotr und Kanter machten, heute wie in jeder Nacht. Einer ging aufs Klo. Er hörte einen kräftigen Strahl und ein tiefes Aufseufzen. Dann ein Räuspern. Wolfgang. Dann hörte er das Geräusch nackter Füße auf dem Zellenboden. Er spürte einen Lufthauch. Und dann eine Stimme an seinem Ohr: »Paß auf, verdammt. Paß auf.«

27
    Klein-Roda
    W ilhelm ging es besser. Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Er würde noch mindestens sechs Wochen in einer Rehabilitationsklinik verbringen müssen.
    »Ich will nach Hause.« Der Alte klang sehnsüchtig und trotzig zugleich.
    »Werd’ erst mal gesund.« Bremer bemühte sich, seiner Stimme nicht anmerken zu lassen, daß er auf seinen Hausmeisterjob langsam verzichten konnte. Es war Frühling. Er wollte Fahrrad fahren. Im Garten herumpoltern. Großstädte besuchen und in Biergärten sitzen. Abends das erste Glas Wein angesichts des Sonnenuntergangs trinken. Anne endlich wiedersehen.
    »Ich geb’ mir Mühe.« Wilhelm klang kläglich. »Und daß ich dich belaste mit meinen Angelegenheiten…«
    »Komm, Wilhelm. Deine Angelegenheiten sind unsere Angelegenheiten.« Paul wußte mittlerweile besser als alle anderen, was der Ortsvorsteher tat für die Seinen.
    »Vielleicht könntest du nochmal nach Anastasia gucken, ich weiß nicht, ich mach mir Sorgen.«
    Wahrscheinlich zu Recht. Die alte Frau aus Ottersbrunn begann, wunderlich zu werden. Sie hatte Bremer kürzlich gebeten, sie mit nach Pfaffenheim zu nehmen, weil sie sich die Ohrläppchen durchstechen lassen wollte. Für Ohrringe. Das hatte er noch charmant gefunden. Aber bei jedem Wetter hingen neuerdings Unterwäsche und Nachthemden über der Reling der Treppe zum Hauseingang. Und vor ein paar Tagen hatte sie ihn mit Andreas angeredet.
    »Ich fahre gleich los. Und – erhol dich. Wir brauchen dich gesund wieder.«
    Aus »gleich« wurde nichts. Auch in Klein-Roda hatte man mittlerweile seine Talente erkannt. Für Lieselotte Becker mußte er eine Lampe aufhängen, Gottfried brauchte Hilfe beim Reparieren des Hühnerstalls, und Erwin hatte Probleme mit seinem Luxusrasenmäher. Als er losfuhr, war es Mittag und ein strahlender Frühsommertag geworden.
    Die Tür von Anastasias Haus stand sperrangelweit offen. Es roch vertraut – verraucht und beißend, so wie es riecht, wenn es auf einen der ländlichen Scheiterhaufen regnet, mit deren Hilfe viele Nachbarn das Problem der stets zu kleinen Abfalltonnen lösen. Heute hingen keine Nachthemden auf der Reling vor dem Haus. Als Bremer näher kam, sah er weiße und rosa Wäsche in einem schmutzigen Haufen direkt neben zwei prall gefüllten blauen Müllsäcken liegen. Der Brandgeruch wurde intensiver. Bremer tastete sich über den dunklen Flur und stieß dabei gegen das Geschirr fürs Katzenfutter. Das Wasserschälchen war leer und im Freßnapf hockten Fliegen.
    »Anastasia?« Nichts zu hören und niemand zu sehen.
    »Du verdammtes Biest du!« Der zornige Aufschrei kam aus dem ersten Stock. Und dann ein lautes Poltern. Bremer ging die schiefe Stiege hoch. Auch die Tür zum Schlafzimmer der alten Dame stand weit offen. Wieder fiel etwas mit lautem Poltern um. Und dann sagte die Männerstimme zufrieden: »Hab’ ich dich!«
    Durch die Tür kam ein dicklicher Kerl

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