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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Vierteljahrhundert alte Drama nicht aus dem Kopf. Am tiefsten quälte sie der Gedanke an den Schmerz des sechsjährigen Kindes – an den seelischen merkwürdigerweise, nicht den körperlichen.
    Der Junge war mitgegangen mit den beiden älteren Kindern, voller Vertrauen. Wann merkte er, daß sie ihm weh tun wollten? Begriff er überhaupt, was geschah? Und dann war es zu spät. Das Vertrauen in die beiden anderen Jungen hatte das Kind wehrlos gemacht. Kein Angstreflex half ihm, kein Fluchtinstinkt, mit denen die Natur kleine Kinder und Tiere ausgestattet hat, damit sie überleben.
    Es wunderte sie, daß sie dieses Gefühl zu kennen schien, dieses Staunen erst – und dann der bodenlose Schmerz, wenn es endlich dämmert, daß man das Vertrauen und das Vertraute verloren hat. Daß man aus der Welt gefallen ist.
    Sie stand auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Und was war mit den beiden Tätern? Sie waren älter als ihr Opfer, gewiß. Gerade mal strafmündig. Aber sie waren noch Kinder, der eine eben erst vierzehn geworden, der andere ein paar Monate älter. Glaubten sie, das alles sei ein Spiel? Hatten sie zuviel an Fröschen, Hamstern oder Katzen geübt? Waren sie als verrohte kleine Ungeheuer aufgewachsen? Oder waren sie sich selbst so unbegreiflich wie dem kleinen Martin?
    Sie blieb mit dem Kaffeebecher in der Hand mitten im Raum stehen, geradewegs da, wo die Sonne ihn in zwei Teile zerschnitt, und wußte nicht genau, was am meisten weh tat. Die Geschichte des kleinen Martin? Liebeskummer? Oder bloß ihre verdammte elende Einsamkeit?
    Reiß dich zusammen, befahl die Vernunft.
    Dem Rest von ihr war das egal. Der wollte weinen. Dann klingelte das Telefon. Als sie auflegte, war sie wütend. Endlich wieder.
    Der Mörder der drei Frauen war gefunden worden, die man vor einer Woche nachts auf dem Parkplatz vor einem Fitneßclub gefunden hatte, erschossen. Der achtzehnjährige Türke behauptete, einem Freund einen Gefallen getan zu haben, der sich einer Neuen wegen von seiner schwangeren Ehefrau trennen wollte. Als unerwünschte Zeuginnen wurden die beiden anderen Frauen gleich mit umgelegt.
    Was ist das? dachte Karen. Die »Natur«? Die Natur »des Mannes«? Oder ist eine Kultur schuld, in der man von der Wertlosigkeit von Frauen überzeugt ist? Oder …
    Sie ging zum Fenster, lehnte die Stirn an die Scheibe und merkte erst, als ihr die Hände weh taten, daß sie sie zu Fäusten geballt hatte. »Du suchst nach rationalen Erklärungen«, hatte Gunter einmal gesagt, als er von der Obduktion einer jungen, von ihrem Freund erstochenen Frau kam, die Augen müde, die Stimme voller Resignation. »Nach Ursachen. Nach etwas, das man beheben kann, und dann wird alles gut. Aber du wirst dich damit abfinden müssen, daß es immer wieder Menschen gibt, deren Brutalität nur noch von ihrer Dummheit übertroffen wird.«
    Und dagegen ist bekanntlich kein Kraut gewachsen.
    Sie löste sich vom Anblick der taubenkotbekleckerten grünen Behörden-Jalousien vor den Fenstern des Gebäudes gegenüber. Statistisch gesehen, hörte sie Manfred Wenzel dozieren, statistisch gesehen sind die meisten Gewalttäter in der Bevölkerungsgruppe der jungen Männer zwischen 18 und 25 zu finden – ebenso wie ihre Opfer. Statistisch gesehen nimmt die Zahl der Sexual und Tötungsdelikte an Kindern seit Jahren ab. Statistisch gesehen spielen Minderjährige als Täter kaum eine Rolle.
    Statistisch gesehen leben wir in einer friedlichen, in einer von Jahr zu Jahr friedlicher werdenden Gesellschaft. Prima. Und was heißt das? Daß es Hoffnung gibt, dachte Karen. Um so hilfloser macht uns die Ausnahme.
    Was Peter Bachmann und Johannes von Braun an einem heißen Tag im August 1979 taten, war die Ausnahme; ein Tabubruch, wie man ihn sich schlimmer nicht vorstellen kann in dieser Gesellschaft. Was hilft es da, daß er, rein statistisch gesehen, wenig zählt?
    Sie nahm die Akte aus dem Regal, die sie am Montag zurückgehen lassen wollte, und blätterte erneut nach allem, was sich über die beiden finden ließ. Der eine der beiden war geständig, der andere schwieg zunächst trotzig. Er galt als der Intelligentere, als der Durchsetzungsfähigere, der Anstifter. Der eine war schüchtern, der andere phantasiebegabt. Beide keine Monster.
    Auch die Familiengeschichten legten keine Gewaltkarriere nahe. Peter Bachmann wuchs bei seiner Mutter auf, der Vater hatte sich abgesetzt, als der Sohn zehn Jahre alt war. Sophie Bachmann, Schauspielerin von Beruf, schien eine

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