Schneesterben
und hielt ihm dann die Nase zu.
Von ferne hörte er es hämmern. Jemand schrie »Hilfe!« und »Kommt denn niemand!«
Das Puzzle vervollständigte sich. Der Horizont riß auf. Ihm war alles klar.
TEIL III
31
Klein-Roda
S chon wieder eine, dachte Bremer, als er die Zeitung holte. Die junge Frau im viel zu dünnen Sommerkleid, die über die Dorfstraße schritt, streckte der Morgensonne einen wohlgerundeten Bauch entgegen. Irgend etwas an ihr war ihm vertraut – wie sie den Kopf zurückwarf, als ob sie ihre Haare nicht kurz, sondern überschulterlang trüge. Und wie sie nach rechts und nach links guckte, als erwarte sie Beifall. Er ließ die Briefkastentür geräuschvoll einrasten. Sie drehte sich um und winkte ihm strahlend zu. Es war Tamara. Fast noch ein Kind und schwanger.
Klein-Roda mußte irgendwann eine Extraladung Fruchtbarkeitshormone abbekommen haben. Er tätschelte Birdie, die ihr seidiges Köpfchen an seinem Hosenbein rieb, und dachte an Katzennachwuchs.
Als er sich mit einer Kanne Tee auf die Gartenbank setzte und in die Zeitung vertiefen wollte, quietschte es fröhlich vorm Gartentor. Christines Jüngster hatte Nemax am Schwanz gepackt, der dem Übergriff mit Haltung begegnete – hoffentlich noch lange. Katzengeduld war endlich. Aber Tamara und Christine standen am Gartentor und fanden es offenbar urkomisch, wie wenig das Kleinkind sich um scharfe Krallen und spitze Zähne scherte.
Christine hatte den Arm um Tamara gelegt. Das war das erste, was Bremer auffiel. Christine, das sittliche Vorbild des Dorfes, und Tamara, das ›minderjährige Flittchen‹, das Christine noch vor Wochen in Verdacht gehabt hatte, sich an Jan herangemacht zu haben, an den treuesten aller Ehemänner, dem niemand sowas zugetraut hätte. Tamara – schon eher.
Bremer winkte und vertiefte sich wieder in die Zeitung. Er wollte nicht zur Stelle sein müssen, wenn Nemax tat, was er unweigerlich irgendwann tun würde.
Schon geschehen. Nemax fauchte. Christines Kleiner brüllte. Tamara tröstete. Christine schimpfte.
Als die beiden das Kind eingesammelt und hoch zu Christines Haus gezogen waren, traute sich Bremer wieder aufzublicken. Über ihm sah Marianne aus dem Fenster, dem Dreiergespann hinterher.
»Sie ist doch erst…« Zwölf? Dreizehn?
»Vierzehn«, sagte Marianne. »Seit März.«
»Und seit wann ist sie schwanger?«
»Seit Februar, seit man sie im Tunnel gefunden hat. Du weißt schon. Vergewaltigt.«
Marianne klang zweifelnd – sie, die immer voller Affenliebe an dem Mädchen gehangen hatte.
»Man hat damals keinen Hinweis auf eine Vergewaltigung gefunden«, sagte Bremer mit aller Vorsicht. Er wollte dem Mädchen nichts unterstellen.
Marianne nickte. »Und sie sieht eher nach dem fünften als nach dem vierten Monat aus.«
Bremer faltete geräuschvoll die Zeitung zusammen. So genau kannte er sich damit nun auch wieder nicht aus. »Und was macht sie bei Christine?«
»Weißt du das nicht? Sie ist zu Hause rausgeflogen.«
»Wieso wohnt sie dann nicht bei dir?« Tamara hatte immer bei Marianne übernachtet, wenn ihre Eltern sie loswerden wollten. »Und was ist mit Jan?«
»Christine hatte ein Zimmer frei. Mütter müssen zusammenhalten, das weißt du doch«, sagte Marianne. Sie schloß das Fenster mit Gefühl.
Nach einer halben Stunde merkte Paul, daß er nicht ein einziges Wort des gewiß spannenden Zeitungsberichts über die Zukunft der bemannten Raumfahrt wirklich aufgenommen hatte. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen, spürte noch, wie Birdie auf seinen Schoß kletterte und den Kopf unter seine Hand steckte, und wachte erst auf, als jemand seinen Namen rief.
Jens wedelte mit einer Postkarte. Als Bremer danach greifen wollte, zog er sie weg. »Aus Nairobi!« rief der Postbote. Und: »Du kriegst sie erst, wenn du mir ein Paket abnimmst!«
Anne. Eine Postkarte. Wie schön.
»Was für ein Paket?« fragte Bremer, der plötzlich den fast unwiderstehlichen Impuls verspürte, Jens die Postkarte kampflos zu überlassen, die ihn doch bloß daran erinnerte, daß er Anne viel zu lange nicht gesehen hatte.
»Nicht für dich!«
»Das dachte ich mir fast.« Birdie war unruhig geworden auf seinem Schoß und begann zu knurren.
»Für sie«, sagte Jens und deutete mit dem Daumen hinter sich, Richtung Friedhofsweg. Dorthin, wo Krista Regler wohnte. »Sie ist nicht da.« Er klang beinahe beleidigt.
»Für Krista?«
»Sag’ ich doch.« Jens ging zu seinem Auto zurück, tauchte in den Gepäckraum ab und kam
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