Schneesterben
Exzentrikerin zu sein, wenn man den Hang zu esoterischen Hobbies wie Kräutersammeln bei Vollmond oder das Barfußgehen bei Regen oder exzessives Tarot-Kartenlegen dafür halten wollte. Sie gab sich als Anhängerin antiautoritärer Erziehungsmethoden und war schon mal betrunken aufgegriffen worden. In einem VW-Käfer, der nach der Begegnung mit dem Baum wahrscheinlich nur noch Schrottwert hatte.
Karen lehnte sich zurück. Vater abwesend. Eine womöglich alkoholkranke Mutter, der die Gutachter bescheinigten, nicht ganz von dieser Welt zu sein. Das ergab ein durchaus vertrautes Bild. Der Sohn – »kindlich für sein Alter« hatte es an irgendeiner Stelle in der Akte geheißen – hatte wahrscheinlich ein feines Gespür für die Gefühlsregungen anderer entwickelt, wie es Kinder brauchen, die es mit unberechenbaren Erwachsenen zu tun haben, zu denen Trinker meistens zählen. So viel wußte sie noch aus den Psychologieseminaren, die sie während ihres Studiums belegt hatte. Und wenn diese eh schon überspannte Mutter es auch noch mit dem Übersinnlichen hielt, mochte das Vertrauen in die Welt des Realen zu verschwimmen beginnen.
Und wenn man ein Außenseiter war… Sophie Bachmann lebte zum Tatzeitpunkt noch nicht lange im Mittelhessischen, Rottbergen hieß das Kaff, der Name kam ihr bekannt vor. Waren die siebziger Jahre nicht die Hochzeit aller möglichen obskuren Landkommunen gewesen?
Für einige Sekunden schwebte ihre Hand über dem Telefonhörer. Sie hatte plötzlich Sehnsucht nach der vertrauten Stimme Paul Bremers, nach seiner ruhigen Art, nach seiner Sicht der Dinge. Ich werde krank an meinem Beruf, Paul, dachte sie. Ich nehme die Dinge zu ernst. Ich nehme sogar die Dinge ernst, die mich nichts angehen. Oder die schon längst Geschichte sind.
Sie zog die Hand zurück.
Darüber hinaus waren die psychologischen Gutachten der beiden Jungen nicht sehr erhellend. Affektlabilität. Emotionale Deprivation, kognitive Verzerrungen. Mangelhafte Impulskontrolle. Der Psychojargon machte sie ungeduldig, ebenso wie die Tendenz, die beiden jugendlichen Straftäter als bloße Opfer hinzustellen. Dennoch kam ihr das Muster, das die Gutachter entwarfen, plausibel und vertraut vor. Peter Bachmann war unreif für sein Alter und ohne Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, ohne ein Gespür für Grenzen und Maßstäbe. Er hatte sich dem wenig älteren Johannes v. Braun angeschlossen, dem einzigen aus einem der Nachbardörfer, der auch zum Gymnasium ging, und sich ihm mehr und mehr untergeordnet.
Das übliche Lied – ein verunsichertes, vereinsamtes Kind trifft auf einen Spielkameraden mit Anführerqualitäten. Und was für welchen. Johannes v. Braun war der einzige Sohn eines Frankfurter Rechtsanwalts, der sich und seiner Familie den Traum vom Leben auf dem Lande erfüllt hatte – in einem umgebauten Bauernhof. Großes Grundstück, Pony fürs Kind und Selbstverwirklichung für die malende Mutter, ehemals Lehrerin. Die Mutter ist geistig abwesend, der Vater selten da. Außenseiter auch dieser Knabe.
Macht einen das zum Gewalttäter? Natürlich nicht. Höchstens in den Augen der anderen – die Nachbarn hatten die sozialen Kompetenzen der Familie Bachmann und der Familie v. Braun gleich bewertet, nämlich als nicht sonderlich hoch.
Die Tat wühlte die Bewohner der drei betroffenen Dörfer auf, das war verständlich. Andererseits hatten die meisten der zur Sache Befragten »sowas kommen sehen«: die einen, weil sie die Familienverhältnisse der Täter, die anderen, weil sie die des Opfers zu kennen und richtig einzuschätzen meinten. Denn auch die Familie Martin Brandts entsprach nicht dem Familienideal, das manch einer mit der Wirklichkeit verwechselt: Die Eheleute stritten sich, er zog aus, sie versöhnten sich wieder. Er arbeitete in einer Schreinerei, sie als Verkäuferin.
Karen spürte, wie sich ihre gute Laune verflüchtigte. Die Düsternis dieser Biografien schlug ihr aufs Gemüt. Der Mutter des getöteten Martin war es bald gelungen, die Bevölkerung der drei Dörfer und Umgebung auf ihre Seite zu bringen – schließlich war sie wenigstens »eine von hier«, anders als die Eltern von Johannes und Peter. Die Eltern von Gewaltverbrechern. Karen konnte sich mühelos vorstellen, was die Leute damals dachten – das gleiche, was sie heute denken, auch wenn sie es nicht auszusprechen wagen: Das ist doch nicht normal! Das kommt doch nicht von ungefähr! Von wem haben die Kinder das bloß?
Wahrscheinlich war es den meisten
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