Schneesterben
egal, ob es die Kinderstube oder die Gene waren, die zwei vierzehnjährige Außenseiter dazu werden ließen – auf jeden Fall waren die Bachmanns und die v. Brauns in ihren Augen Eltern von Kindermördern. Mit denen mochte man nicht länger zusammenleben.
Karen atmete tief durch. Paul könnte wahrscheinlich zig Erklärungen dafür bemühen, warum man in einem Dorf einen solchen Konflikt nicht austragen oder aushalten kann und warum ausgestoßen werden muß, wer die Gemeinschaft bedroht. Ihr wurde ganz anders bei der Vorstellung, was für ein Spießrutenlaufen das wohl gewesen sein mußte für die Familien der Täter. Die v. Brauns verkauften ihr Haus – wahrscheinlich mit Verlust. Mit Mörderelternmalus. Die Bachmanns – sie blätterte weiter. Peters Mutter blieb. Sophie Bachmann, die exzentrische Zugezogene mit den spinnerten Ideen. Ausgerechnet die. Sie mußte heute um die Sechzig sein.
Den Akten war nicht zu entnehmen, wie die Kampagne der Eltern des kleinen Martin gegen die Täter und ihre Eltern weiterging. Es stand auch nicht drin, ob Sophie Bachmann die Einsamkeit und die Sorge um ihr Kind mitten in einer feindlichen Umgebung durchgehalten hatte.
Karen klappte den Aktendeckel zu. Ihr war Sippenhaft fast so unheimlich wie die Tat selbst.
Als sich die Tür öffnete, zuckte sie wie ertappt zusammen. »Du bist ja noch da!« rief Manfred Wenzel.
»Hast du kein Zuhause?«
Nicht richtig, dachte sie.
33
Ebersgrund
E s sah wie ein Prozessionszug aus, was sich da über den Feldweg Richtung Tunnel bewegte. Bremer bremste und stieg vom Rad. Für einen Schulausflug waren zu viele ältere Herrschaften dabei. Die meisten waren in Sportjacken und stabiles Schuhwerk gekleidet, unterhielten sich lebhaft und schritten absichtsvoll voran. Er kannte niemanden. Oder doch?
In zehn, zwanzig Metern Abstand folgte dem ersten Zug ein zweiter. Einige der Männer trugen Sonntagsanzüge, Marianne kam im Joggingdress, und der alte Knöß sah aus, wie er immer aussah. Bremer erkannte Gottfried und Willi und Werner und Nachbarn aus Groß-Roda, aus Heckbach und aus Ottersbrunn. Einige der Älteren hatten Schirme dabei – in den Morgennachrichten war vor einer sich nähernden Regenfront gewarnt worden. Noch war der Himmel blau.
Niemand vom zweiten Zug schien sich zu unterhalten. Alle guckten grimmig. Bremer schob sein Rad neben Gottfried.
»Ich dachte, der Ostermarsch wäre schon vorbei?
Oder übt ihr für den New-York-Marathon?«
Gottfried verzog keine Miene. »Hast du’s nicht gelesen? Es stand in der Zeitung.«
Wahrscheinlich in der, die er selten las.
»Heute trifft sich die ›Initiative Gedenkstätte Tunnel von Ebersgrund‹.« Gottfried sprach die Worte so vorsichtig aus, als ob sie bei näherer Befassung explodieren könnten. »Das finden wir – interessant.«
Bremer auch. Er stieg aufs Rad, umkurvte die Pilger und setzte sich an die Spitze der Bewegung. Vor dem Eingang zum Tunnel stand ein ausgeklappter Tapeziertisch, wie ihn alle kannten, die jemals in der Gewerkschaftsbewegung, in einer Partei, für den Frieden oder bei den Tierschützern gewesen waren. Dahinter stand Moritz Marx, in einem in warmen Erdtönen gehaltenen Lamahaarpullover, vor ihm auf dem Tisch Papierstapel, die nach Broschüren und Unterschriftslisten aussahen.
Er wird eine Rede halten, dachte Bremer und gähnte. Der erste Zug traf ein und gruppierte sich um Moritz und seinen Feldherrenhügel. Bremer sah ernste junge Gesichter und von innerer Weisheit erleuchtete ältere, viele Frauen und wenige Männer. Im Vergleich sahen die Einheimischen ungehobelt und schlechtgelaunt aus. Die Männer (und wenigen Frauen) stellten sich auf die andere Seite des Halbrunds, den die Lichtung vor dem Tunneleingang bildete, verschränkten die Arme und senkten das Kinn auf die Brust.
Dann begann, was Bremer bei sich »Feldgottesdienst« taufte. Moritz Marx erinnerte und mahnte und nannte Namen – polnische, russische, französische, belgische, jüdische. Und mündete in ein Bekenntnis gegen das Vergessen.
Soweit ganz ordentlich, dachte Bremer. Dieses Land ist übersät von Orten der Grausamkeit und des Leidens – wieso soll es dort, wo es am schönsten ist, anders sein?
In der Gruppe seiner Nachbarn war es unruhig geworden. »Bei uns saßen die Polen mit am Tisch«, murmelte der alte Knöß.
»Aber nicht die aus dem Tunnel!« flüsterte Gottfried. Moritz Marx breitete die Arme aus und schien an Größe zuzunehmen. »Wir laden alle ein – alle! –, sich zu
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