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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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beteiligen an einer würdigen Gestaltung dieses Orts, an dem so viel Blut und Tränen geflossen sind. Wir wollen ihrer aller gedenken.«
    »Bist du sicher?« hörte Bremer eine vertraute Stimme rufen. »Du willst an alles erinnern, was hier passiert ist? Wirklich an alles ?«
    Moritz Marx versuchte, den Einwurf wegzulächeln. Wieder hatte Bremer das Gefühl, daß er sich vor irgend etwas fürchtete.
    »Auch an das, was nach dem Krieg passiert ist?«
    In der Gruppe um Willi murrte und murmelte es. Die Anhänger von Moritz Marx guckten verständnislos. Moritz lächelte weiter, unbeirrt.
    »Und jetzt wird Marius hier das Schloß entfernen, das wir haben anbringen lassen, damit niemand den Ort mißbraucht oder schändet.«
    Moritz Marx wandte sich der Tür zu. Bremer merkte erst jetzt, daß sie halb offenstand. Moritz wechselte einen Blick mit Marius. Der schüttelte den Kopf. Der Bürgermeisterkandidat straffte sich wieder, zog die Tür noch weiter auf und ging voran.
    Die Mitglieder der ersten Gruppe marschierten, ohne zu drängeln und mit gefaßten Gesichtern, im Gänsemarsch hinein. Der Raum unter den fliegenkotverschmutzten Leuchtstoffröhren sah kahl und aufgeräumt aus. Moritz erläuterte die Bedingungen, unter denen die Männer und Frauen im Zweiten Weltkrieg hier arbeiten mußten. Es mochte in der Landwirtschaft halbwegs menschenfreundlich zugegangen sein. Aber in der Rüstungsindustrie machte Arbeit weder frei noch satt.
    Bremer ließ die erste Gruppe vorausgehen und wartete auf die Nachbarn. Ihre grimmige Entschlossenheit war einer gewissen Verlegenheit gewichen. Nur Willi schien Mut gefaßt zu haben und die weihevolle Stille durchbrechen zu wollen.
    »Und hier hat sich, für alle, die es wissen wollen, Walter Knab umgebracht, mit seinem Dienstrevolver. Sein Hirn spritzte bis fast unter die Decke.«
    »Willi!« Marianne sprach ihren Tadel mit ungewohnter Zärtlichkeit aus.
    »Und hier…« Knöß hatte eine ganz leise Stimme bekommen. Der alte Herr war sichtlich bewegt. »Und hier hat Rudi Kleeberg seinen Nachbarn erschossen, den Erwin Faust. Wegen diesem Hitlergerümpel. Weil Plündern verboten war.«
    »Und hier«, sagte Gottfried tonlos, ohne Bremer dabei anzusehen, »hier…« Der Nachbar schloß die Augen und schluckte vernehmlich. »Es hat uns alle fast zerrissen damals.«
    Sie bogen um die Ecke. Die anderen standen schon da und starrten auf das Bild vor ihnen, als ob es eine Marienerscheinung wäre. Jemand hatte Kerzen auf den Boden vor die Klinkermauer gestellt, die an dieser Stelle eine Art Nische bildete, in die mindestens zwei Heiligenstatuen hineingepaßt hätten. Jemand hatte die Kerzen angezündet. Jemand hockte auf dem Boden neben den Kerzen. Jemand mit weißem Gesicht unter den blonden Haaren, mit weit aufgerissenen Augen.
    Bremer drängte sich durch den Kordon von Anorakträgern nach vorn. »Krista!« Er kniete neben ihr nieder und griff nach ihren Händen. Sie waren kalt. Dann hob er sie hoch, faßte sie um die Schultern und brachte sie durch die Menschen, die vor ihnen Platz machten, nach draußen, an die Sonne, deren Strahlen durch das junge Grün der Birken fiel.

34
    Frankfurt
    D ie Frühlingsluft strömte ihr warm und duftend entgegen, als Karen Stark wieder aus dem Gerichtsgebäude trat. Alle, die ihr auf der Gerichtsstraße entgegenkamen, lächelten, selbst Strafverteidiger Gotzki, dessen zusammengekniffene Lippen und zackiges Kopfnicken ihr normalerweise zeigen sollten, wie verächtlich er die ›Büttel des Staates‹ fand. Sogar die Menschen auf der Zeil schoben als träge Bugwelle, langsamer als sonst, über die Fußgängerschneise. Ausnahmsweise ließ auch sie sich treiben, statt sich dem müßigen Spiel hinzugeben, ihr eigenes Tempo gegen den Strom durchzusetzen.
    Vor dem Café war noch ein Tisch in der Abendsonne frei. Sie bestellte ein Clubsandwich und eine Karaffe Riesling und versuchte, sich nicht verlassen zu fühlen unter all den Menschen. Die SMS, die Gunter ihr aus Washington geschickt hatte, verbesserte ihr Befinden nicht. Im Gegenteil.
    Irgendwann begann sie, die Menschen wahrzunehmen, die vor dem Café mit Einkaufstüten oder einer Bratwurst in der Hand vorbeigingen. Und plötzlich merkte sie, daß sie auf anderes achtete als sonst. Normalerweise fragte sie sich bei Frauen, ob sie berufstätig waren, Kinder hatten, jemanden liebten. Und bei Männern… Sie nahm einen tiefen Zug aus dem Weinglas und hätte sich fast daran verschluckt. Ob sie gut im Bett waren,

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