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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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experimentiert? Und ein paar Jahre später ein Kind umgebracht?
    Als ob er ihren Blick gespürt hätte, blickte er auf. Er hatte Lachfältchen um die Augen. Braune Augen mit gelben Flecken. Wolfsaugen. »Darf ich Sie was fragen?« sagte er und lächelte sie an.
    »Nur, wenn Sie mir eine Frage beantworten.«
    »Bitte. Ich lasse Ihnen den Vortritt.«
    Sie schüttelte den Kopf. Er würde sie für verrückt halten. Er lächelte wieder und fragte nach dem Weg zum Bahnhof.
    Sie hatte schon gezahlt, als das Mobiltelefon klingelte.
    »Ich weiß nicht, ob du es mitgekriegt hast«, hörte sie Edith Manning sagen. »Sie haben Thomas Regler umgebracht.«
    Im Büro, in das sie zurückkehrte wie in einen Heimathafen, war es gottlob windstill. Die Anstaltsleiterin von Strang klang genervt, bemühte sich aber hörbar, hilfreich zu sein. Es war Samstagabend und wahrscheinlich hatte sie schon Stunden am Telefon verbracht. Die JVA hatte in den letzten Jahren eine schlechte Presse gehabt – und nun mußte etwas erklärt werden, was in der Tat erklärungsbedürftig war. Wie konnte es geschehen, daß fünf Untersuchungshäftlinge einen sechsten umbrachten, ohne daß es jemand mitkriegte?
    »Das Opfer scheint sich nicht gewehrt zu haben. Und niemand hat etwas gehört.« Möglich. Möglich war alles.
    »Und – wie ist er gestorben?«
    »Er ist an Erbrochenem erstickt. Vorher ist er mehrfach vergewaltigt worden. Oral und – rektal.«
    »Andere Mißhandlungen?«
    »Der ersten Untersuchung zufolge keine. Allerdings…« Die andere zögerte. Sicher nicht, weil sie zimperlich war. Waltraud Kotte gehörte eher zur abgebrühten Sorte. Aber sie schien zu vermuten, Karen hätte noch einen Restbestand an Mit und Feingefühl. Heute nicht, dachte sie.
    »Allerdings was?«
    »Sie haben ihm den Stiel einer Kehrichtschaufel in den Anus geschoben.«
    Karen spürte, wie sich die feinen Haare an ihren Unterarmen aufrichteten. Wie phantasiebegabt doch Männer waren, wenn es darum ging, eine andere Person zu entwürdigen.
    »Und wieso saß Regler nicht in einer Einzelzelle?« Waltraud Kotte schnaubte. »Bei unseren Platzverhältnissen?«
    »Er hatte Anspruch darauf.«
    »Er hat den Anspruch nicht angemeldet.«
    »Aber vielleicht mußte man ihn nicht gleich mit einer Handvoll ausländischer Gewaltverbrecher zusammenstecken?« Karen merkte, daß ihr die eiserne Abwehr der anderen Frau auf den Wecker ging.
    »Erstens diskriminieren wir nicht, vor allem nicht nach Herkunft. Und zweitens handelt es sich um mutmaßliche Gewaltverbrecher. Muß ich Ihnen etwas über die Unschuldsvermutung gegenüber Untersuchungshäftlingen erzählen?«
    Karen hätte fast gelacht. Die Anstaltsleiterin hatte ihre Verteidigungspositionen gut bemannt – wenn man mit dem Rücken an der Wand steht, rettet man sich gern in den Himmel allgemeiner Rechtsvorschriften. Aber Waltraud Kotte vermutete unter Garantie keine Unschuld mehr bei notorischen Wiederholungstätern. Und daß das Gewaltprofil bei Gefangenen aus bestimmten Kulturkreisen anders gelagert war als bei den Hiesigen, war ihr auch bekannt.
    »Aber bei besonderer Gefährdung…«
    »Der Mann saß unter dem Verdacht des Totschlags eines Rivalen in Untersuchungshaft. Mit so einem Delikt ist man normalerweise fast so angesehen wie jemand, der seine untreue Frau ins Jenseits geschickt hat.« Die Kotte lachte ein geübt unbeteiligtes Lachen.
    Karen seufzte. Auch sie sah kein Motiv.
    »Die Kerle haben Thomas Regler gequält, wie… naja, wie sie es gerne mit dem vermutlichen Mörder des zwölfjährigen Felix machen würden, Sie kennen den Fall.«
    Und ob. Martin Wenzel war damit befaßt und litt sichtlich.
    »Und das verstehe ich nicht.«
    Ich auch nicht, dachte Karen. Nichts verstehe ich mehr.

35
    Klein-Roda
    P aul Bremer hörte die Sirene, ohne sich etwas dabei zu denken. Er war eine Stunde lang durch die regennasse Landschaft gegangen, um nachzuschauen, ob sich an den Brücken der drei Flüsse, die sich bei Klein-Roda trafen, Treibgut angesammelt hatte. Die feuchte Luft war vollgesogen mit Gerüchen, und er hatte das Gemurmel und Geglucker der vielen Bäche und Kanäle im Ohr, die die Flußaue durchkreuzten. Dann tönten Martinshörner. Das Geräusch schien aus allen Richtungen zu kommen, mal näherte es sich, mal klang es weit entfernt. Er beschleunigte seine Schritte. Es konnte in Groß-Roda brennen. Es konnte auch… Er ging wieder langsamer. Wahrscheinlich gab es eine Übung. Oder Tamara mußte mal wieder gesucht werden.
    Als

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