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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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wahrscheinlich.
    Aber heute hatte sie das Gefühl, hinter den Gestalten und Gesichtern Schemen und Schatten zu sehen. Sie gaben mehr als eine Auskunft, erzählten mehr als eine Geschichte. Die Menschen trugen ihre jüngeren Versionen mit sich. Ihre übermalten Entwürfe.
    Die Frau mit dem Hund, die in die Auslage des Uhrengeschäfts starrte, ohne daß man das Gefühl hatte, sie nehme auch nur irgendeine der Piagets und Patek Philippes und Langes wahr: Gerade noch konnte man hinter ihr die Prinzessin erahnen, die mit zehn in den Ballettunterricht geschickt wurde. Die Leidenschaftslose, die mit neunzehn abtrieb, weil sie sich in den Falschen verliebt hatte – in einen, der nicht zu ihrem künftigen Leben paßte. Und die erfolgreiche Verwalterin dieses Lebens. Die Frau sah gelangweilt und kinderlos aus.
    Und der Grauhaarige mit den dunklen Augen hinter der Zeitung am Nebentisch… Er lächelte, als er aufsah und merkte, daß sie ihn anstarrte. Sie war zu verwirrt, um zurückzulächeln.
    Mit elf Jahren einem Mitschüler mit dem Luftgewehr ein Auge ausgeschossen. Mit einundzwanzig einen schweren Motorradunfall überlebt. Und heute… Bonusmeilenflieger? Egal, er gefiel ihr.
    Sie merkte, daß sie ihr Sandwich in wenig appetitliche Einzelteile zerlegt hatte. Die Sonne war hinter einer Wolke abgetaucht, jetzt spürte man den scharfen Wind, der die Flugblätter aufwirbelte, die eine Gruppe Tierschützer vorhin verteilt hatten.
    Eine Frau mit Kopftuch und schlechten Zähnen hielt ihr die Obdachlosenzeitung entgegen. Karen winkte ab.
    Das wäre früher anders gewesen. Als Kind hatte sie Mitgefühl gehabt, das für ein ganzes Friedenskorps der UNO gereicht hätte. Wie alle guten Kinder wollte sie mit elf oder zwölf Jahren ein besserer Mensch werden und die Welt retten. Als Nonne oder Entwicklungshelferin. Karen spießte eine Tomate auf die Gabel und betrachtete sie, bevor sie die Gabel wieder zurück auf den Teller legte.
    Wie fremd ihr so viel Gutgläubigkeit heute war. So fremd wie das Mädchengesicht auf den Kinderfotos, die ihre Mutter in letzter Zeit immer häufiger hervorkramte, wenn sie zu Besuch kam. Mit elf hatte die andere Karen fröhlich in die Kamera geblickt, mit zwölf ernst und mit dreizehn kokett. Mit vierzehn…
    Sie zog die Nase kraus und schob den Teller von sich. Damals begann, was Mutter »die schwierigen Jahre« nannte. Rebellion. Und Verachtung für die Erwachsenenwelt, für alles Halbe, Ungenaue, Ungerade. Also fürs Leben selbst.
    Die Kellnerin stellte eine zweite Karaffe Riesling auf den Tisch und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen den Teller, bevor sie ihn mitnahm. Karen erinnerte sich nicht, noch einen Wein bestellt zu haben, aber sie würde ihn trinken. Einer in der Krone paßte zu ihrer Stimmung.
    Es gehörte sich allgemeiner Überzeugung zufolge für Menschen, die den vierzigsten Geburtstag nahen fühlen, der Vergangenheit hinterherzutrauern, der Unschuld und den Idealen und Überzeugungen, die man so hat, wenn man jung ist. Als man die Welt retten und die große Liebe finden wollte. Karen stellte das Weinglas so hin, daß sich die letzten Strahlen der Sonne darin brachen, die sich durch die wenigen Lücken trauten, die die Geschäftshäuser um sie herum ließen. Sie vermißte diese Ideale nicht; sie hatten etwas Totalitäres. Wie sähe eine Welt aus, die sich dem Tugendterror von Kindern und Halbwüchsigen anverwandelte? Sie erinnerte sich gut an die Unerbittlichkeit, mit der sie das Rauchen, den Alkohol, das Fleischessen und Vollbäder verdammt hatte. Eben – langweilig. Und war die große Liebe vielleicht ein Konzept, in das normale Menschen hineinpassen?
    Für einen Moment schlich es sich an, das Bedauern, das sie nicht empfinden wollte. Gunter ist eine kleine Liebe, dachte sie. Aber die kleine Liebe war größer als die zu Michael, mit dem sie vor einer Ewigkeit bis zum Lebensende hatte zusammenbleiben wollen. Der Gedanke beunruhigte sie.
    Sie merkte, daß sie eine Strähne ihres Haars um den Zeigefinger gewickelt hatte. Einiges hatte sich offenbar nicht verändert: diese Geste und andere schlechte Angewohnheiten. Die Nase. Und die Delle im Kinn, die Carstens liebevoll »Grübchen« genannt hatte.
    Sie sah auf. Der Grauhaarige schien in seine Zeitung vertieft.
    Wer waren Sie, als Sie zehn, als Sie elf Jahre alt waren? hätte sie ihn am liebsten gefragt. Haben Sie Frösche seziert? Mädchen am Haar gezogen? Geld aus Mutters Haushaltsportemonnaie gestohlen? Mit dem Chemiebaukasten

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