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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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schon seit Tagen.
    Krista Regler lauschte in die Stille hinein und fragte sich, ob es erst früher Morgen oder schon wieder Abend war. Durch das von Spinnweben und Fliegendreck verschmierte Fenster fiel mattes Licht auf ein vertrocknetes Alpenveilchen. Draußen sang eine Amsel. Das Kratzen und Schaben vor der Tür hatte aufgehört.
    Ihren Hunger spürte sie schon lange nicht mehr. Nur die Kälte und den Durst. Sie würde verdorren, wenn er nicht bald wiederkäme. Wenn nicht bald irgend jemand käme und sie herausholte aus dieser albtraumhaften Kammer mit dem schmutzigen Holzfußboden und der niedrigen Decke. Mit dem Kunstledersessel und der schmalen Couch, auf die sie sich voller Ekel vor der verfilzten Wolldecke legte, wenn sie so müde war, daß sie einschlafen konnte.
    Ihre Augen brannten. Nicht vom Weinen. Ihr war nur kalt.
    Am ersten Tag hatte sie sich noch gewehrt. Er hatte sie beschimpft und bespuckt. Sie hatte nach ihm geschlagen. Und sich endlich stumm und verzweifelt in eine Ecke verkrochen, um sich vorzustellen, wie in diesen Stunden, während sie in ein finsteres Loch gesperrt war,Thomas’ Sarg in die Erde gesenkt wurde. Ohne daß sie dabei war. Ohne daß sie ihm zum Abschied die erste Schaufel Sand und die Blumen ins Grab werfen konnte.
    Liebster Mann. Geliebter Mann. Einziger Mann. Wenn wir nur hätten reden können.
    Sie streckte sich und versuchte, ihre verkrampften Muskeln zu lockern. Sie hatte nicht gewußt, was sie heute wußte. Sonst wäre Thomas nicht tot. Sonst säße sie nicht hier – mit den besten Aussichten auf ein langes Sterben. Und ohne den tröstenden Glauben daran, daß man sich da oben wiedersehen würde.
    Warum war sie mitgegangen? Der Mann hatte wie ein halbverhungerter Straßenköter ausgesehen, als er vor der Haustür stand. Vor wie vielen Tagen? Ihr fehlte mittlerweile jedes Zeitgefühl. Er brauche Hilfe, hatte er gesagt. Aber er sah nicht aus wie jemand, dem zu helfen war. Sie folgte ihm trotzdem. Und dann war da plötzlich das Messer in seiner Hand. Und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Und dann…
    »Du Schlampe. Du Hure. Du Nutte.« Er stieß jedes Wort hervor mit der Gewalt eines Bohrhammers. Sie hatte in seine glasigen Augen gesehen und geglaubt, die letzten Minuten ihres Lebens seien gekommen.
    Irgendwann hatte sie »Nein!« gesagt. »Ich bin keine Nutte.«
    »Was denn sonst?« Er hatte sein gerötetes Gesicht ganz nah an ihres herangeschoben. Sein Atem roch nach Angst. Dann war er aus der Kammer gelaufen und hatte die Tür von außen zugesperrt.
    Zuerst hatte sie das Fenster attackiert – mit den bloßen Fäusten. Idiotisch. Der Fensterrahmen war aus Eisen, das Glas war viel zu dick und die einzelnen Quadrate zu klein. Nie hätte sie da durchgepaßt. Ihr schmerzten die Hände noch immer. Und dann die Fingernägel. Abgerissen und zersplittert. Sie hatte sich die Finger blutig gekratzt beim vergeblichen Versuch, die Tür aus den Angeln zu heben.
    Krista Regler hockte sich auf die Couch und legte den Kopf auf die Knie. Als sie vor Panik keine Luft mehr bekam, hatte sie sich zum Nachdenken gezwungen. Die Bilanz war trostlos. Es gab weder Tisch noch Stuhl, also auch nicht die dazugehörigen Beine, die ihr als Waffe hätten dienen können. Der Blumentopf war aus Plastik und noch nicht einmal als Betäubungsmittel geeignet. Blieb der breite Rahmen um das Bildnis einer blöde lächelnden Mutter Gottes. Aber auch der war nicht aus Holz, wie sie gemerkt hatte, als sie das Bild von der Wand holte. Fast hätte sie ihre Wut an dem Alpenveilchen ausgelassen. Das Bild zerschlagen. Sich die Haare gerauft und die Kleider zerrissen.
    Dann wurde ein Schlüssel ins Schloß gestoßen. Er war wieder da.
    Es mußte am zweiten Tag gewesen sein. Sie begann, etwas zu ahnen von seinem Wahn. Sein Gesicht leuchtete, wie er da im Türrahmen stand. »Die Hexe«, hatte er geflüstert. »Die Hexe hat sich in Rauch aufgelöst.« Für einen Moment glaubte sie, einen brennenden Scheiterhaufen zu riechen. Und dann begann er zu lachen. Oder zu schreien. Groß war der Unterschied nicht.
    Ebenso abrupt hörte er wieder auf. Er hatte rote Flecken im Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn.
    »Und willst du was wissen«, hatte er heiser gesagt und sein Gesicht wieder an sie herangeschoben, immer weiter, bis sie nicht mehr zurückweichen konnte. »Der Rest wird auch noch dran glauben müssen. Der Abschaum vom Abschaum.« Er spuckte vor Wut. Ein Speicheltropfen traf sie am Kinn.
    Der Abschaum vom

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