Schneesterben
geläufig wäre.
»Und die sollen doch sagen, was sie wollen.« Kathrinchen zupfte an Nicoles Kleidchen, in dem die Kleine ganz allerliebst aussah. »Gell, meine kleine Brautjungfer?«
Bremer hatte ihnen hinterhergewunken, als sie in die Kutsche stiegen, die sie zum Traualtar brachte. Auch er machte sich nichts aus dem kirchlichen Ritual. Aber er wollte dabeisein, wenn die drei aus der Kirche kamen. Wollte das glückliche Gesicht von Kathrinchen sehen und das verlegene von Wolle. Irgend etwas mußte ja mal gut ausgehen in diesen düsteren Zeiten.
Zumal er sich Sorgen um Krista machte. Wo war sie?
Er dachte an das Bild, wie sie mit Kerzen im Tunnel gesessen hatte am Wochenende zuvor – irgendwie war das verrückt gewesen, daß sie nicht um ihren Mann, sondern um ein seit vielen Jahren totes Kind trauerte. Ein Nervenzusammenbruch? Drehte sie durch? Hatte sie sich womöglich etwas angetan? Er legte den Wagen in die Kurve und hörte den alten Mann neben sich nach Luft schnappen.
Gottfrieds Hand hatte sich in den Haltegriff des Autos verkrampft. Schuldbewußt fuhr Bremer langsamer. »Krista hat mir die Geschichte erzählt«, sagte er nach einer Weile. »Die Geschichte mit dem kleinen Martin. Und den beiden Nachbarsjungen.«
»Dann weißt du noch nicht einmal die Hälfte«, knurrte Gottfried.
»Erzähl mir die andere Hälfte.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Das willst du nicht wissen. Das will niemand wissen. Streit zwischen Nachbarn und engen Freunden. Drohungen. Und Kinder, die dafür zu büßen haben. Immer wieder Kinder.«
»Was ist aus den Tätern geworden?«
»Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen.« Nach einer Weile setzte Gottfried fast unhörbar hinzu:
»Und niemand sollte es wissen wollen.« Mehr war aus dem Alten nicht rauszuholen.
Bremer hing seinen eigenen Gedanken nach. Auch er hatte büßen müssen, dachte er manchmal, für die Unfähigkeit der Erwachsenen. Als seine Mutter gestorben war – im Kindbett, das kleine Mädchen überlebte sie einen halben Tag –, war sein Vater nicht wiederzuerkennen gewesen. Der kleine Paul hatte die Schuld dafür bei sich gesucht, wie Kinder eben fühlen, die verlassen werden. Dabei gab es nur eines, das ihn auszeichnete, und dafür konnte er nichts: Er sah seiner Mutter ähnlich. Und die hatte sein Vater abgöttisch geliebt, mehr, viel mehr als den Sohn. So, wie auch Großonkel Wallenstein sie geliebt hatte, dessen Herz indes groß genug war, um Platz auch für ihr Kind zu haben. Er hatte ihn herausgeholt aus einem der vielen Heime, durch die er gereicht worden war. Bremer schickte dem alten Herrn einen zärtlichen Gruß hoch zu Wolke Sieben.
Die schöne alte Tür vom Gasthof »Drei Eichen« war mit Girlanden und Rosen geschmückt. Draußen im Hof standen gedeckte Tische unter gelben Sonnenschirmen. Bremer parkte in der Nähe. Zur Kirche war es nicht weit. Mit Hund und Blumensträußen bogen sie um die Ecke zum Kirchplatz, als die Glocken in triumphierendes Geläut ausbrachen. Bremer ging schneller. Irgend etwas machte ihn unruhig.
Franz roch es als erstes. Das Tier hob die Nase in den Wind und stieß ein leises Winseln aus. Dann quoll ihnen der Rauch entgegen. Und dann sahen sie es, wie all die anderen, die jetzt aus der Kirchentür traten. Jemand schrie. Und Bremer spürte, wie die Übelkeit in ihm emporquoll.
42
S ie hatte sich heute früh mehr Mühe mit sich gegeben als sonst. Als sie gewaschen und geschminkt war, band sie sich das samtene Tuch ums Haar, mit dem sie wie eine Zigeunerin aussah. Dann holte sie das Kleid aus dem Schrank. Seit Jahren hatte sie es nicht mehr getragen, das weite, wallende Beduinengewand, handbestickt. Er hatte es geliebt, wenn sie es anzog, um mit ihm in die Stadt zu gehen oder zum Markt, wo alle ihnen hinterherstarrten. Das war damals, als die Tage noch Licht hatten.
Handtasche und Geld brauchte sie nicht. Die große Basttasche aus einem lang vergangenen Sommerurlaub in Südfrankreich war das richtige für ihre Zwecke. Sie summte vor sich hin, als sie hinüber zum Schuppen ging.
Es war kein Plan, der sie antrieb. Sie hatte nie wirklich darüber nachgedacht. Aber es schien ihr richtig zu sein, jetzt, da er tot war.
Sie hatte den Kanister vor Jahren gekauft, weil man ja nie wissen konnte. Eine Zeitlang hatte sie ihn immer dabei gehabt, bei jeder längeren Autofahrt, dann war er im Schuppen gelandet und im letzten Frühjahr hatte sie ihn wiedergefunden. Sie hob ihn hoch und schüttelte ihn leicht. Die
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