Schneesterben
ihm aufs Sofa und dösten. Er las eine traurige Geschichte von Liebe und Tod und ging früh zu Bett.
Am nächsten Tag mußte er notgedrungen das Haus verlassen. Gottfried hatte Geburtstag und zu einem Frühschoppen ins »Rauschende Brünnlein« geladen. Im Grunde graute ihm vor den versammelten Männern mit ihren roten Gesichtern und Kopf-Ab-Parolen. Jeder einzelne von ihnen mochte ein netter Kerl sein, aber in Mengen und unter dem Einfluß von Bier und Schnaps waren die Nachbarn im engeren und weiteren Sinn manchmal ziemlich unerträglich. Und würden sie all die Verdächtigungen und Denunziationen wieder auspacken, die Harry in die Welt gesetzt hatte? Wenigstens der würde ihm erspart bleiben, den hatte Gottfried bestimmt nicht eingeladen.
Die Sonne hatte sich durchgesetzt, als er vor der Kneipe ankam. Man saß draußen an langen Holztischen und stemmte schon die Bierkrüge. Gottfried winkte ihn neben sich. Er war längst nicht so strahlender Laune, wie es sich für einen gesunden Frühpensionär an seinem Geburtstag gehörte. Verkohlte Menschenkörper verdarben auch dem stärksten Bauern die Laune, dachte Bremer, ließ sich ein Bierglas geben und hob es dem Nachbarn entgegen.
Auf Gottfried. Auf einen Mann, auf den man sich verlassen kann.
Die Selbstverbrennung vor der Kirche war auch heute noch Thema Nummer 1. »Sie war verrückt«, hörte er Willi sagen. »Und nicht erst seit damals.« Sein Herz setzte für einen Schlag aus und stolperte weiter. Sie? Aber man sprach nicht über Krista Regler. »Sophie Bachmann«, sagte Gottfried, der seinen Blick richtig deutete.
»Aus Rottbergen. Sie war schon immer nicht ganz dicht, aber daß sie sowas tun würde…«
Sophie Bachmann. Sein Hirn blieb leer. Der Name sagte ihm etwas. Aber was?
»Du weißt doch…« Irgend jemand hieb Gottfried eine schwielige Pranke auf die Schulter, bevor er ausreden konnte, und wünschte »Alles Gute zum 30. Geburtstag, alter Schwede!«
Natürlich. Die Frau, die einmal Schauspielerin gewesen war. Die etwas exzentrische Dame mit Hang zur Esoterik, die in Vollmondnächten tanzte.
»Sie ist – sie war die Mutter.« Wieder schüttelte jemand die Hand des Jubilars.
Willi lehnte sich herüber. »Die Mutter einer der beiden Jungen, die den kleinen Martin Brandt getötet haben. 1979. Verstehste?«
Heute schwiegen sich die Nachbarn nicht über die Vergangenheit aus. »Sie hätte wegziehen sollen wie die anderen auch! Warum mußte sie da wohnen bleiben und alle an das Schreckliche erinnern? Für Martins Familie war das doch auch nicht schön!«
Natürlich. Die Dorfphilosophie. Du sollst nicht erinnern. Bremer fühlte sich hin und hergerissen zwischen Verständnis und wachsender Abneigung gegen die Gewalt, mit der man ausblendete, was störte.
»Sowas Irres! Und sie muß den Wisch fotokopiert und in alle Briefkästen geworfen haben!«
»Gibt es einen Abschiedsbrief?« fragte Paul leise. Gottfried nickte. »›Ihr sollt immer an mich denken‹«, zitierte er.
Was für ein Fluch. Er hatte die Flammen vor Augen, den Geruch in der Nase und seinen eigenen Aufschrei im Ohr. Nie würde er sie vergessen, die brennende Fackel. Ganz so, wie Sophie Bachmann es sich gewünscht hatte.
Er lehnte sich zurück. Die Sonne hatte die Dunstschleier vertrieben. Gelächter und gebrüllte Witze verschmolzen zu einem fernen Tosen. Bataillone von Fliegen besoffen sich auf den langen Holztischen an verschüttetem Bier. Er fühlte sich unendlich fremd hier, unter den Menschen und an einem Ort, den er vor kurzem noch beinahe zu seiner Heimat gezählt hätte. Als er aufsah, stand Marianne neben ihm und lächelte ihn an, als ob sie ihn um Verzeihung bitten wollte. Er lächelte unwillkürlich zurück. Dabei wollte er ihr nicht verzeihen. Noch nicht.
»Wenn es nicht Krista war, die sich verbrannt hat«, sagte er, zu wem auch immer, »und sie immer noch verschwunden ist – dann müssen wir sie endlich suchen.«
Seine Worte fielen in eine plötzliche Stille. Ausdruckslose Gesichter wandten sich ihm zu – und gleich wieder ab. Dann setzte das Stimmengewirr wieder ein. Marianne war gegangen. Er sah das kollektive Urteil in Gottfrieds mitfühlendem Blick. Für Krista Regler würde sich hier niemand auch nur die Schuhsohlen schmutzig machen.
45
E s war Sophie Bachmann.«
»Ich weiß.« Bremer steckte eine magentarote Rose de Resht in die Vase, neben die süß duftende Souvenir de la Malmaison. Auf dem Gartentisch vor ihm lagen Rosen in allen Formen und Farben,
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