Schneesterben
Flüssigkeit schwappte hörbar hin und her. Es war noch genug drin.
Sie verstaute den Kanister in der Basttasche und ging zum Haus zurück. Die Kerzen lagen in der Küchenschublade, Streichhölzer direkt dabei. Sie packte beides ein.
Auf dem Küchentisch stand die Flasche Wein, die sie gestern abend geöffnet hatte und ein Rest Kaffee von heute morgen. Eine Weile war sie unschlüssig. Heilige Nüchternheit war angesagt für das, was vor ihr lag. Andererseits… Sie nahm die Flasche und ein Glas aus dem Wandregal und legte beides in den Korb, vorsichtig, damit das Glas nicht zerbrach.
Auf dem Weg hinaus sah sie in den Flurspiegel. Das also ist aus dir geworden, dachte sie bei ihrem Anblick. Sie nickte sich zu. Sie war mit sich im reinen.
Als sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte und auf die Straße trat, summte sie wieder vor sich hin. Die Melodie hatte sich festgesetzt in ihrem Kopf und wollte nicht weichen. Erst auf der Höhe der Pferdekoppel fiel es ihr wieder ein. Es war ein Lied, das sie geliebt hatte während der ersten Jahre. »God only knows«. What I’d be without you, fügte sie in Gedanken hinzu. Und jetzt kamen sie doch, die Tränen.
Sie packte die Tasche fester und ging schneller. Sie kannte den Weg, obwohl sie ihn Jahre nicht mehr gegangen war. Als sie die Häuser von Waldburg sah, die in einer Senke lagen und friedlich taten, hielt sie inne und stellte den Korb ab.
»Mögt ihr ersticken in eurer Idylle zwischen Hühnerstall und Schweinekoben«, murmelte sie. »Mögt ihr in der Gülle versinken. Vom Blitz getroffen werden. In der Kuhscheiße ausrutschen. Von euren Hunden zerfleischt werden.«
Sie schloß die Augen und atmete tief ein. Und wieder aus. Verflucht, dachte sie. Verflucht seid ihr. In alle Ewigkeit.
Als sie die Augen wieder öffnete, flaute der Wind ab und die Sonne begann, ein Loch in die Wolkendecke zu brennen. Es war nicht mehr weit.
Ein Wagen hupte hinter ihr. Sie ging unbeirrt weiter auf der rechten Seite der Straße. Das Auto raste an ihr vorbei, das Verdeck heruntergeklappt. Die drei jungen Leute bedachten sie mit abfälligen Gesten, einer rief:
»Schneller, Mutter!«
Sie hatte es nicht eilig. Sie würde ankommen. Wenn es Zeit war, anzukommen.
So leicht hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt, so sicher, so gewiß. Sie würde wie eine Fackel Licht in die Düsternis bringen. Sie war das Zeichen, das alle erkennen mußten.
An das Jenseits glaubte sie nicht und auch nicht daran, daß man »da oben« seine Liebsten wiedersehen würde. Aber sie glaubte an die Wiedergeburt – und wenn es als ein Wurm wäre, so sollte es ihr recht sein.
So lange wie ein Pariah gelebt. So lange durchgehalten – solange er noch lebte. So lange, wie man ihm und allen anderen zeigen mußte, daß man nicht aufgeben durfte.
Sie war müde geworden. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Jetzt würde sie ihnen auch den letzten Triumph gönnen – auf eine Weise, die sie nie vergessen sollten.
Der Ort war wie leergefegt. Aus der Kirche ertönte Gesang. Das Haus, das sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, war noch schäbiger geworden. Sonst hatte sich nichts geändert. Sie setzte sich auf eine Bank unter einer Platane, holte die Flasche Wein aus dem Korb und goß sich ein. Sie hob das Glas. Er war tot. Aber er hatte länger überlebt, als zu erwarten gewesen war.
Sie leerte das Glas und warf es hinter sich. Dann verteilte sie die Kerzen im Halbkreis auf den Boden, im Angesicht der Kirche und des geschnitzten Portals. Vielleicht ist das der Eingang ins Paradies, dachte sie, stellte die Kerzen auf und zündete sie an.
Endlich holte sie den Kanister aus der Tasche, schraubte den Verschluß auf und übergoß sich mit der Flüssigkeit. Sie kniete auf dem Boden und stellte sich eine weiße weite leere Fläche vor. Und als die Glocken zu läuten begannen, beugte sie sich langsam vor, langsam. Bis die Kerzen die weiten Ärmel ihres Kleides erfaßten.
Während die Flammen sie umhüllten, hätte sie weinen können vor Triumph. Sie spürte keinen Schmerz, als die Kirchentür aufging und die Menschen herausströmten. Dann zwang der Schmerz sie um so eiserner in seinen Griff. Kurz bevor sie sich schreiend auf den Boden warf und versuchte, die Flammen zu ersticken, glaubte sie, in einem letzten Blick, ein Gesicht zu sehen, auf dem sich erst Erschrecken und dann ein hämisches Grinsen abzeichnete.
Und endlich loderte alles auf und erstarb in der großen Dunkelheit.
TEIL IV
43
S ie fror. Sie fror
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