Schneestille
selbst zu bemitleiden.«
»Ich habe es immer als Geschenk gesehen. Das Leben, meine ich. Keine Ahnung, von welcher Macht. Aber ich wusste immer, dass es ein Geschenk ist. Und irgendwie glaube ich, dieser Raum, diese Zeit, die wir gerade haben, wurden uns auch gegeben. Weshalb, das kann ich beim besten Willen nicht mal ansatzweise verstehen.«
»Gib es zu. Du glaubst doch nicht, dass wir für alle Zeiten hierbleiben werden, oder, Zoe?«
»Nein.«
Sie schaute ihm in die Augen, und sie hatten etwas von dem Glitzern des Mondscheins im Schnee, als er ihren Blick erwiderte. Vorhin, als sie im Juwelierladen gewesen war und mit der Idee gespielt hatte, sich irgendwas von Cartier, Tiffany oder wie sie alle hießen auszusuchen, da hatte sie nichts von alledem haben wollen. Wie musste es sein, wenn man so reich war, dass man sich einfach alles leisten konnte, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an den Preis zu verschwenden? Es konnte doch nicht befriedigend sein, etwas zu erstehen, das man vollkommen ohne Anstrengung oder Mühe haben konnte. Man müsste schon ziemlich pervers veranlagt sein, ein oder zwei Dutzend solcher Dinge zu bestellen, damit es ein bisschen wehtat. Oder nur Sachen haben zu wollen, die einem ein Loch ins Portemonnaie rissen. Das einzige Schmuckstück, an dem ihr wirklich etwas lag, waren die Augen ihres Mannes, die sie wie jetzt gerade bewundernd anschauten; die einzige Kette war sein Atem auf ihrer Haut, wenn er ihren Hals küsste; der einzige Ring das schlichte Goldband, das sie bereits am Finger trug. Das alles sagte sie ihm.
Er lachte. »Du bist betrunken und wirst gefühlsduselig.«
»Nein. Ich bin stocknüchtern, kühl und völlig klar im Kopf.«
»Ich liebe dich. Länger, als wir hier sind. Wo auch immer wir hier sind.«
»Wenn hier einer betrunken ist, dann ja wohl du. Du sagst mir nur, dass ich betrunken bin, wenn du selbst einen in der Krone hast.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Zum Teufel mit dem ganzen Kokolores von Dessert und Kaffee. Sollen wir einfach zurück zum Hotel spazieren?«
Gemeinsam schlenderten sie durch den mondbeschienenen Schnee, der mit zartem Raureif überzogen war und wie Millionen Diamanten funkelte. Jake stützte sich auf Zoe, als sei er betrunken, auch wenn er das gar nicht war. Ehe sie hineingingen, nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste im milchig weißen Licht ihre Lippen. Sie schmeckte den Wein in seinem Kuss; da war sie sich ganz sicher. Sie brauchte sich nicht daran zu erinnern, wie sein Kuss schmeckte; seine Küsse schmeckten immer nach Rotwein, Seide, Pfeffer, dem Geruch von Blut und Hoffnung.
In ihrem Zimmer verschwand Jake gleich auf der Toilette. Sie hörte, wie sein Urin in das Becken plätscherte. Jake pinkelte immer herzhaft, mit einem kräftigen Strahl wie ein Pferd. Zoe hängte ihre Skijacke auf und schloss dann die Schranktür. Gerade wollte sie die Träger der Skihose öffnen, als sie von einem vertrauten musikalischen Trillern unterbrochen wurde. Sie drehte sich um und wollte etwas zu Jake sagen, doch der war noch im Badezimmer beschäftigt.
Was ist das? , hatte sie gerade noch Zeit, sich zu fragen. Das ist … Das ist dein Telefon, du Doofi. Jemand versucht, dich auf dem Handy anzurufen.
Das fröhliche Klingeln wurde lauter.
»Jake!«, schrie sie.
Es ist im Schrank , sagte Zoe sich. Es ist in der Tasche deiner Skijacke. Hol es raus! Na los! Mach schon!
Aber sie konnte nicht. Sie war wie gelähmt. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Das unterwartete Läuten des Telefons, das so unvermittelt über sie hereingebrochen war, ließ sie vor Schreck erstarren. Sie machte den Mund auf, um abermals nach Jake zu rufen. Der sollte den Anruf annehmen, nicht sie. Sie wollte sich bewegen, aber es kam ihr vor, als säße sie in einer Falle. Körperlich eingeengt, als hielte jemand ihre Arme und Beine in einem eiskalten Klammergriff.
Wieder klingelte das Telefon.
»Jake!«
Sie lag wieder im Schneegrab der ersten Lawine. Von steinhart zusammengedrücktem Schnee umgeben. Kopfüber und die Luft aus einer winzigen eingeschlossenen Luftblase atmend versuchte sie, einen Finger zu bewegen. Sie bewegte einen Finger, eine Hand, den Arm, und der festgedrückte Schnee um sie herum bröckelte und verschwand. Sie stürzte zum Schrank, riss die Tür auf und zerrte an ihrer Jacke. Das Handy klingelte immer noch. Es war in einer der geschlossenen Reißverschlusstaschen. Hektisch fummelte sie daran herum und griff dann hinein. Mit zitternden
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