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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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von alten Gewohnheiten. Privatsphäre brauchten sie nicht mehr, und das Licht war zu einem wertvollen Gut geworden, das eher dem Leben verbunden schien als dem Tod. Es auszusperren schien einem Affront gleichzukommen, also blieben die Vorhänge offen.
    Da es seit einigen Tagen nicht mehr geschneit hatte, war der Schnee auf dem Boden nun wie eine vom Wind geschaffene Skulptur, geformt, geschliffen und verweht, wie ein Tier, das die gewaltigen Flügel gefaltet hatte und mit hängenden Schultern dahockte. Die abgerundeten Kanten kräuselten sich wie fließendes weißes Kerzenwachs, und im Licht des Mondes, der über den Bäumen hing, wirkte alles so zerbrechlich, als könne die ganze Landschaft jeden Augenblick zerspringen wie das Gemälde eines Alten Meisters unter Krakelierlack.
    Urplötzlich überkam sie der sehnliche Wunsch, diese Landschaft zu bevölkern. Sie betastete ihren Bauch, fühlte nach der kleinsten Rundung oder winzigsten Wölbung. Sie legte die Finger auf ihren Leib und schaute zum Mond hinauf, der am dunklen Himmel stand. Vielleicht sollte sie endlich mit Jake reden.
    Sie hatte eine ganze Menge Testsets mitgehen lassen und damit jeden Tag aufs Neue den Status ihrer Schwangerschaft überprüft, und jeden Tag hatten die Tests es ihr wieder bestätigt. Positiv, positiv, positiv. Sie hatte ihren Vorrat an Testerschachteln ganz unten im Schrank versteckt. Sie würde es ihm sagen, beschloss sie nun wieder, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sollten sie in ein paar Monaten immer noch an diesem eigenartigen Ort sein, wäre ihr Zustand ohnehin nicht mehr zu übersehen. Im Schein des hellen Mondes schlief sie ein.
     
    Doch dann wachte sie plötzlich auf, und aus irgendeinem Grund setzte sie sich mit einem Ruck kerzengerade im Bett auf. Sie hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, doch der Mond war am Himmel schon sehr weit gewandert, als folge er einem anderen Zeitplan als sie selbst. Irgendeine Bewegung, eine Veränderung des Luftdrucks hatte sie geweckt.
    Sie schaute nach draußen und dann zur Zimmertür. Die Tür war offen.
    Und in der Tür stand ein hochgewachsener Mann.
    Im ersten Moment war ihre eigene Angst wie eine kalte, scharfe Klinge, die aufblitzte und sie von innen aufschlitzte. Sie wollte schreien, aber sie brachte nur ein ersticktes Keuchen zustande. Sie trat nach ihrem schlafenden Ehemann, und dieser körperliche Befreiungsschlag ließ auch den Schrei laut und klar aus ihr herausbrechen; aber da war sie auch schon aus dem Bett gesprungen und bereit, sich gegen die Erscheinung an der Tür zur Wehr zu setzen.
    »Was? Was? Was?« Jake hatte sie an den Schultern gepackt.
    »Da war ein Mann! In der Tür.«
    Der war zwar jetzt verschwunden, aber die Tür stand noch immer offen. Jake kannte seine Frau gut genug, um ihr Glauben zu schenken. Er stürzte zur Tür und schaute links und rechts den Korridor entlang. Es war niemand da, kein Laut zu hören. Er lauschte auf schlagende Türen, auf Schritte oder den Aufzug. Aber das Hotel war so still wie ein Grab.
    »Ist alles okay?«
    »Ja. Ich bin aufgewacht, und er stand da.«
    »Hat er dich angegriffen?«
    »Nein, er stand in der Tür. Reingekommen ist er nicht.«
    »Was hat er denn gemacht?«
    »Er hat den Arm ins Zimmer gestreckt. Ganz langsam. Sonst nichts.«
    »Wie sah er denn aus?«
    »Er war ganz in Schwarz gekleidet. Komplett schwarze Skisachen. Sein Gesicht war im Dunkeln. Ich weiß nicht.«
    »Herrje. Tja, jetzt ist er jedenfalls weg, Liebling. Ich schwöre dir, da draußen ist er nicht. Okay?«
    Sie nickte.
    Er nahm ihr Gesicht in seine großen Hände. »Ich glaube, du könntest es vielleicht auch nur geträumt haben.«
    Sie schüttelte nur den Kopf.
    »Ich glaube, du könntest es sehr wohl nur geträumt haben. Du könntest es geträumt haben und bist aufgewacht, und in dem Moment dachtest du, du hättest ihn da gesehen.«
    »Nein.«
    »Du kennst das doch auch, diesen Moment zwischen Wachen und Träumen? Das meine ich. Da sieht man solche Dinge. Genau da leben diese seltsamen Erscheinungen. Das weißt du doch auch.«
    »Die Tür stand auf, Jake! Sie steht noch immer auf.«
    Das war ein nicht zu vernachlässigendes Loch in seiner Argumentationskette, die Lücke, an der man ansetzen konnte. Über die Schulter schaute er zu der offenen Tür. »Haben wir die vorhin zugemacht? Haben wir die Tür zugemacht, ehe wir ins Bett gegangen sind?«
    »Natürlich haben wir sie zugemacht.« Entschlossen marschierte sie zu der Tür. »Sieh her!

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