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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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konzentriert sein, und man kann keine Sekunde abschalten oder einschlafen; und gleichzeitig, während man die Summe all dieser gegensätzlichen Kräfte ist, die man unter Kontrolle zu halten versucht, ist man doch ein Nichts auf dem gewaltigen Berg; ein Fleckchen, ein Stäubchen, ein schmelzendes Flöckchen.«
    »Du kannst mich jetzt steinigen. Aber das klingt verdammt religiös.«
    »Man muss doch nicht gleich auf die Knie fallen, um zu beten. Ich bete gerade. Ich sage Dank, auf den Knien des Berges. Ich bin ein wandelndes Gebet. Siehst du die Spuren hinter mir im Schnee? Kannst du nicht lesen, was ich geschrieben habe?«
    Sie schaute den Berg hinauf und zog die Nase kraus. »Da sind bloß Skispuren. Ich kann überhaupt nichts lesen.«
    »Kannst du wohl. Das ist meine Schrift. Das ist meine Lobpreisung.«
    Ziemlich beeindruckt schaute sie ihn an. Er strahlte mit seinem Tausend-Watt-Lächeln. Aber sie sagte bloß: »Du hast sie ja nicht alle.«
    »Möglich. Kommst du mit Skifahren?«
    Schon glitt er den Hang hinunter; sie folgte ihm und versuchte, ihn einzuholen. Sie hatte seine Worte noch im Ohr. Es stimmte: Es waren Worte der Lobpreisung auf den Flanken des Berges, sagte sie sich. Das war es, was sie da machten.
    Sie rasten den schwarzen Hang hinunter, und ihre Skier schepperten über die Stellen, an denen die Bäume ihren Schatten auf die Piste warfen und der Schnee eisverkrustet war; und dort, wo sie in der Sonne fuhren und die Kruste geschmolzen oder angetaut war, flüsterten die Skier und wischten sanft über den Schnee.
    Etliche Abfahrten später schauten sie in La Chamade nach Sadie. Die wartete noch immer geduldig auf der Terrasse. Freudig sprang sie auf, als sie die beiden kommen sah, und folgte ihnen nach drinnen.
    Dort schälten sie sich aus den Skijacken, und Jake holte an der Bar eine Flasche Rotwein. Er entkorkte sie und wollte ihnen gerade zwei Gläser einschenken, als Zoe sagte: »Hast du das gehört?«
    Er stellte die volle Flasche neben die leeren Gläser auf den Tisch und lauschte angestrengt. In der Ferne war ein Dröhnen zu hören, wie entferntes Motorengeheul; oder wie das Rattern schwerer Panzerfahrzeuge, ganz weit weg; oder womöglich wie ein sehr großer Lastwagen.
    »Ist das eine Pistenraupe?«
    Wieder spitzen sie die Ohren, und aus dem Dröhnen wurde ein Grollen, das tatsächlich wie eine Pistenraupe klang, die langsam näher kam, aber ohne den durchdringend piepsenden elektronischen Warnton. Das tiefe Grollen hatte eine unheimlich niedrige Frequenz, gedämpft und beunruhigend. Es war fast, als hätte einem jemand Wattebäusche in die Ohren gestopft.
    »Das ist keine Pistenraupe«, sagte Jake. »So klingt rutschender Schnee.«
    Das tiefe Grollen wurde lauter und brachte noch ein anderes Geräusch mit, ein Zischen, und kaum war das zu hören, erzitterte das ganze Restaurant. Die Flasche und die Gläser, die Jake auf den Tisch gestellt hatte, schlugen klirrend aneinander und wanderten langsam in Richtung Tischkante.
    Das ganze Restaurant bebte. Jake und Zoe waren beide aufgesprungen und spähten aus dem Fenster den Berg hinauf. Es war nichts zu sehen, aber viel zu hören. Flaschen, die in Kisten oder Regalen hinter der Bar lagerten, zitterten und klirrten. Weinflasche und Gläser fielen vom Tisch auf den Holzboden, ohne zu zerbrechen. Eines der Gläser kullerte davon.
    Jake schrie, sie sollten sich hinter der Bar auf den Boden legen, die zwischen ihnen und der Quelle des schrecklichen Geräuschs stand. Er schleifte einen großen Tisch quer durch den Raum über den Boden und verkeilte ihn vor der Bar. Dann krochen sie hastig unter den Tisch.
    »Sadie! Hierher, Mädchen! Komm her!«
    Der Hund zitterte am ganzen Leib. Das Grollen hatte sich zu einem unterschwelligen Donnern gesteigert, wie ein entferntes Gewitter, und das Zischen klang, als würde ein riesiges Passagierflugzeug gleich draußen vor der Tür starten.
    Hinter der Bar fielen Flaschen aus den Regalen und zerschellten auf dem Boden. Teller und anderes Geschirr fielen in der Küche scheppernd herunter. Man konnte hörten, wie die Blockbohlenwände des Hauses anfingen zu ächzen und zu splittern. Das Restaurant drohte, zu Streichhölzern zermahlen zu werden. Zoe und Jake hockten unter dem Tisch und hielten sich im Arm, während das Brüllen und das Geräusch von zersplitterndem Holz um sie herum tosten wie ein Sturm.
    Endlich ließ das Beben nach und mit ihm das gewaltige Zischen; das tiefe, unterschwellige Brüllen verebbte und zog

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