Schneesturm und Mandelduft: Kriminalroman (German Edition)
zuleide getan …« Tränen glänzten in seinen Augen.
Es fiel ihm schwer, das zu sagen, aber Martin war dazu gezwungen:
»Heute Morgen sah es so aus, als habe er Bernard durchaus etwas zuleide getan.«
»Er wurde provoziert«, fauchte Harald, aber die Wut verpuffte genauso rasch, wie sie aufgelodert war, und er fügte gedämpft hinzu:
»Bernard hat ein großes Talent, die Schwachstellen der anderen zu finden und sich zunutze zu machen. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass zwischen ihm und Matte ein Konflikt schwelte, und ich … ich hätte wohl herausfinden sollen, was das war …« Er setzte sich plötzlich aufrecht hin.
»Denken Sie, dass Bernard ihn …?« Sein Gesicht bekam auf einmal ein wenig mehr Farbe.
Martin hob abwehrend die Hände. »Im Augenblick denke ich gar nichts. Und wir wollen die Lage nicht mit einer Menge falscher Anschuldigungen verkomplizieren.« Er musterte Harald streng. Der nickte und sagte:
»Ich verstehe. Ich werde mich zurückhalten. Aber beim geringsten Beweis, dass er …« Seine Miene wurde finster.
»Beweis …« Dieses Wort löste in Martin etwas aus. Er hatte etwas übersehen. Irgendetwas hätte er tun oder sehen müssen, doch was? Er wiederholte das Wort noch einmal innerlich … Beweis … Richtig! Er hatte oben in Mattes Zimmer etwas vergessen. Er stand abrupt auf.
»Entschuldigen Sie mich, Harald, es gibt da eine Sache, die ich überprüfen muss. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er ging in Richtung Tür, blieb aber noch einmal stehen, bevor er den Speisesaal verließ, und sagte freundlich: »Versuchen Sie, etwas zu essen.« Dann lief er rasch die Treppe hinauf.
Vivi klopfte vorsichtig an Mirandas Tür. Das Zimmer der Tochter lag genau gegenüber von ihrem und Gustavs, und sie hatte einige Minuten zuvor gehört, wie die Tür geöffnet und geschlossen worden war. Sie selbst hatte ausgestreckt auf dem Bett gelegen, an die Decke gestarrt und die Gedanken schweifen lassen. Chaotische, finstere Gedanken. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie Mattes Leichnam vor sich. Das Blut auf dem Brustkorb und auf dem Boden. Brittens Gesichtsausdruck, als sie den Kopf ihres Sohnes im Schoß hin und her wiegte. Schließlich ließ Vivi die Augen offen. Die Bilder waren weniger stark, weniger unheimlich, wenn sie sich stattdessen auf die Zimmerdecke konzentrierte. Ihre eigene Schuld lastete schwer auf ihr. Das Gewicht von Geheimnissen, die viel zu lange im Dunkeln geschlummert hatten. Ihre Angst hatte die Geheimnisse sicher gewahrt, aber jetzt brachen sie unweigerlich hervor. Warum, wusste Vivi nicht. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, ihr Gewissen zu erleichtern, sondern eigentlich beschlossen, die Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen. Aber jetzt war alles anders. Vielleicht lag es daran, dass sie zum ersten Mal von nahem mit dem Tod konfrontiert worden war. Vielleicht war es der Ausdruck in Brittens Gesicht. Nichts konnte schlimmer sein. Im Vergleich zu dem Schmerz, ein Kind verloren zu haben, wirkte alles andere lächerlich. Auch Geheimnisse. Manche Dinge vertragen kein Tageslicht, hatte sie stets gedacht. Zum ersten Mal schien nun Sonne auf ihr Geheimnis zu fallen, und es wirkte vollkommen unbedeutend. Vivi stand auf. Sie spürte eine ungewohnte Entschlossenheit. Ihr ganzes Leben lang hatte sie keine einzige unangenehme Entscheidung getroffen, sondern stets versucht, den Weg nach vorn möglichst gerade, breit und eben zu gestalten. Jetzt stand sie im Begriff, Öl ins Feuer zu gießen, von dem kaum jemand wusste, dass es überhaupt existierte.
Sie zog sich eine Weste über und schlüpfte in die Pantoffeln, die sie ordentlich neben das Bett gestellt hatte. Ein kurzes Zögern, bevor sie die Tür aufzog, aber sobald sie im Flur war, wusste sie, dass es kein Zurück mehr gab. Der Augenblick war gekommen.
Nach wenigen Schritten stand sie vor der Tür zu Mirandas Zimmer. Sie klopfte vorsichtig an. Zuerst hörte sie ein Geraschel, dann die fragende Stimme ihrer Tochter:
»Wer ist da?«
»Ich bin’s.«
Schritte waren zu hören, dann öffnete Miranda mit besorgter Miene die Tür: »Ist etwas passiert?«
Vivi schüttelte eilig den Kopf. »Nein, nichts ist passiert.« Sie zögerte. »Kann ich kurz reinkommen?«
»Ja, natürlich, komm nur.« Miranda trat zur Seite, um sie hereinzulassen. »Ich habe nur ein wenig gelesen. Wollte kurz weg von … von all dem.« Sie sah einen Augenblick lang sehr traurig aus, und Vivi fragte sich, ob sie das Richtige tat. Aber die Zweifel
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