Schneesturm und Mandelduft: Kriminalroman (German Edition)
dagegen war ständig bewusst, dass sie im Bruchteil einer Sekunde alles verlieren konnte. Als Matte ein Baby war, träumte sie von unerkannten Herzfehlern und erzwang eine gründliche Untersuchung, um sich davon überzeugen zu lassen, dass er gesund wie ein Fisch im Wasser war. Im ersten Jahr schlief sie nie länger als eine Stunde am Stück, weil sie immer wieder aufstehen und sich vergewissern musste, dass er noch atmete. Als er größer wurde und auch als er bereits zur Schule ging, schnitt sie sein Essen in winzige Häppchen, damit er nicht daran erstickte. Außerdem träumte sie von Autos, die seinen zarten Körper überfuhren.
Als Matte ein Teenager war, wurden ihre Träume noch unheimlicher. Alkoholvergiftung, Trunkenheit am Steuer, Prügeleien. Manchmal warf sie sich im Schlaf so heftig von einer Seite auf die andere, dass Gunnar wach wurde. Nachdem sie einen Alptraum nach dem anderen geträumt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzubleiben und zu warten, bis Matte nach Hause kam. Ihr Blick wanderte unruhig zwischen Telefon und Fenster hin und her. Immer wenn sich dem Haus Schritte näherten, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung.
Als er von zu Hause auszog, wurden ihre Nächte etwas ruhiger. Eigentlich war das seltsam, denn ihre Ängste hätten zunehmen müssen, weil sie ihn nun nicht mehr überwachen konnte. Sie wusste jedoch, dass er keine unnötigen Risiken eingehen würde. Er war vorsichtig, das zumindest hatte sie ihm beigebracht. Und er war fürsorglich und würde nie jemandem weh tun. Sie folgerte daraus, dass ihm auch niemand weh tun wollte.
Beim Gedanken an all die Tiere, die er im Laufe der Jahre angeschleppt hatte, musste sie lächeln. Verletzt, verlassen oder einfach nur vom Leben gezeichnet. Drei Katzen, zwei überfahrene Igel und ein Spatz mit gebrochenem Flügel. Ganz zu schweigen von der Schlange, die sie zufällig in seiner Kommode entdeckte, als sie die frische Wäsche einräumte. Nach diesem Vorfall musste er auf Ehre und Gewissen schwören, Reptilien, egal, wie schwer ihre Verletzungen waren, fortan ihrem Schicksal zu überlassen. Widerwillig hatte er sich gefügt.
Sie wunderte sich, dass er nicht Tiermediziner oder Arzt werden wollte. Aber das Studium an der Handelshochschule schien ihm Spaß zu machen, und soweit sie das zu beurteilen vermochte, konnte er gut mit Zahlen umgehen. Die Arbeit bei der Gemeinde schien ihm ebenfalls zu gefallen. Trotzdem war da etwas, das sie nachdenklich machte. Sie konnte es nicht genau benennen, doch sie hatte wieder diese Alpträume. Jede Nacht erwachte sie schweißnass und hatte einzelne Bilder im Kopf. Es war nicht alles so, wie es sein sollte, aber auf ihre vorsichtigen Fragen reagierte er mit Schweigen. Daher hatte sie sich darauf konzentriert, ihn zum Essen zu bewegen. Wenn er erst ein paar Kilo zugenommen hatte, würde alles wieder gut werden.
»Willst du nicht noch ein bisschen mehr essen?«, flehte sie, als Matte die Gabel auf den noch halbvollen Teller sinken ließ.
»Jetzt hör aber auf, Signe«, sagte Gunnar. »Lass ihn in Ruhe.«
»Halb so wild«, lächelte Matte bleich.
Mutters Junge. Er wollte nicht, dass sie seinetwegen beschimpft wurde, auch wenn sie nach mehr als vierzig Jahren Ehe wusste, dass ihr Mann es nicht so meinte. Einen derart gutmütigen Kerl wie ihn gab es nicht noch einmal. Wie schon oft zuvor bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass der Fehler bei ihr lag. Sie machte sich zu viele Sorgen.
»Entschuldige, Matte. Natürlich brauchst du nicht noch mehr zu essen.«
Sie verwendete den Spitznamen, den er trug, seit er sprechen, aber seinen eigenen Namen noch nicht richtig aussprechen konnte. Zuerst hatte er sich selbst Matte genannt, und dann hatten es alle anderen auch getan.
»Weißt du, wer auf Besuch zu Hause ist?«, fuhr sie fröhlich fort und begann, die Teller abzuräumen.
»Keine Ahnung.«
»Annie.«
Matte zuckte zusammen und sah sie an.
»Annie? Meine Annie?«
Gunnar lachte leise. »Ich habe mir gedacht, dass du bei diesem Thema munter wirst. Du hattest immer eine kleine Schwäche für sie.«
»Ach, hör doch auf.«
Signe sah plötzlich den Teenager vor sich, dem die Ponyfransen über die Augen hingen und der ihr mit zittriger Stimme mitteilte, er habe nun eine Freundin.
»Ich habe ihr heute ein paar Lebensmittel rausgebracht«, sagte Gunnar. »Sie ist auf der Geisterinsel.«
»Mensch, du sollst Gråskär nicht so nennen.« Signe schüttelte sich. »Sie heißt Gråskär.«
»Wann
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