Schneetreiben
Argumenten gegenüber aufgeschlossen war. Irgendetwas musste Lina
ja an ihm finden.
»Lass sie doch, Marc«, begann sie. »Wir sind schließlich hier, um …«
Sie wollte ihn am Arm fassen, aber dann zog sie ihre Hand zurück. Da
war etwas in seinen Augen. Ganz plötzlich flammte wilder Hass darin auf. Sie
fühlte sich zu benommen, um zu verstehen, was gerade passierte. Noch nie hatte
sie so etwas bei ihm erlebt.
In diesem Moment torkelte Jens auf die Gruppe zu, die schweigend und
voller Unbehagen dastand.
»Was ist denn hier los?«, fragte er mit einem dümmlichen Grinsen.
»Du belästigst doch nicht etwa Lina, oder, Marc? Muss ich einschreiten?«
Klara hätte am liebsten aufgestöhnt über soviel Ungeschick. Das war
wieder einmal typisch für Jens.
»Was mischt du dich hier ein?«, blaffte Marc erwartungsgemäß. »Du
kannst doch gar nicht mitreden. Du weißt ja gar nicht, worum es geht.«
Demonstrativ legte er den Arm um seine Freundin und lächelte überheblich.
»Deine Alte lässt dich ja nicht mal ran! Oder irre ich mich?«
Jens wurde blass. An den Gesichtern der anderen Mädchen erkannte
Klara, dass sich alle weit weg wünschten.
Lina schlug Marc mit den Fäusten gegen die Brust. »Du Arschloch!«
Marc nahm die Schläge mit einem selbstgefälligen Grinsen hin. Es war
ein offenes Geheimnis, auch wenn keiner darüber sprach. Er hatte einen
sensiblen Punkt getroffen und kostete nun seinen Sieg aus.
Jens blickte unsicher zu Klara. Doch was sollte sie schon sagen? Wie
sollte sie ihm helfen? Sie wünschte, er würde sich selbst zur Wehr setzen. Aber
daraus wurde wohl nichts. Mit einem Seufzer wandte sie sich ab und sammelte die
leeren Gläser ein.
Jens drehte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Arschloch!«, sagte Lina nochmals und ließ ihren Freund stehen, der
ihr mit einem Schulterzucken hinterherblickte.
Kurz darauf schien der Zwischenfall vergessen. Jemand legte Robbie
Williams auf, alle sangen laut mit und stürmten zur Tanzfläche. Klara wollte
einen Augenblick allein sein. Sie ging in den Nebenraum, um frisches Baguette
zu holen.
Neben dem Büfett lehnte sie sich an einen Balken und atmete durch.
Unter dem Tisch entdeckte sie den Hofhund. Rolf hatte sich ebenfalls vom Lärm
der Party zurückgezogen und einen Platz zum Dösen gefunden.
»Na, du?« Klara lächelte dem Hund zu, der träge zu ihr
hinaufblickte. »Gehen dir die anderen auch so auf die Nerven?« Sie lachte. »Ich
kann dich da gut verstehen.«
Doch der Hund verlor bald das Interesse und legte seinen Kopf wieder
auf die Vorderpfoten. Sie stieß sich mit einem Seufzer vom Balken ab, ging zum
Büfett und machte sich daran, Baguette zu schneiden.
Sie bemerkte die Veränderung im Augenwinkel. Gerade hatte der Hund
noch dösend unterm Tisch gelegen, im nächsten Moment stand sein gesamter Körper
unter Spannung. Er hielt den Kopf aufrecht, legte die Ohren an und blickte zum
Scheunentor. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die regnerische
Nacht, die dunkel vor dem Tor lag und nur durch einen kleinen Spalt zu sehen
war. Klara wollte ihn gerade ansprechen, da sprang er wie auf Kommando auf und
lief hinaus.
»Rolf!« Sie warf das Baguette auf den Tisch. Doch der Hund war
verschwunden. »Rolf! Verdammt noch mal, warte!«
Lina tauchte neben ihr auf. »Lass ihn. Wahrscheinlich hat er nur ein
Kaninchen gewittert.«
Klara hatte keine Lust, darauf einzugehen. »Er soll nachts nicht
alleine raus!«, sagte sie knapp und ließ ihre Freundin einfach stehen.
Es war tatsächlich nicht ungefährlich, den Hund allein
hinauszulassen. Rolf wäre nicht der erste Hofhund, der auf der Hauptstraße
Opfer eines Autos würde. Dazu kam der starke Regen, der die Straße nur noch
gefährlicher machte. Klara nahm einen Schirm aus dem Ständer neben dem Eingang
und lief hinaus ins Freie.
Der Bewegungsmelder hatte die Hoflampe aufflammen lassen. Im hellen
Schein prasselte Regen auf den Asphalt. Der Schirm bot kaum Schutz gegen die
dicken Tropfen, die von überall herbeigeschossen kamen. Sie umklammerte den
Griff.
»Rolf! Komm zurück!« Doch von dem Hund fehlte jede Spur.
Die Nacht war tiefschwarz. Jenseits des beleuchteten Hofs verlor
sich alles im undurchdringlichen Nichts. Welche Richtung sollte sie
einschlagen?
Von ferne war ein Bellen zu hören. Womöglich aus dem Garten hinter
dem Haus. Dort, wo das Grundstück an die Hauptstraße grenzte.
»Mist!«, zischte sie und lief los.
Der Garten hinter dem Haus war in ein mattes Zwielicht
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