Schneetreiben
dachte ich zunächst,
es wäre ein Missverständnis.«
»Leider nein. Ihr Sohn hat bei einem Freigang auf dem Gelände die
Flucht ergriffen. Sein Betreuer war ihm nicht auf die Toilette gefolgt, wie es
eigentlich Vorschrift ist. Ihr Sohn nutzte diese Unachtsamkeit, stieg durch das
Klofenster und dann über den Anstaltszaun. Als sein Betreuer die Flucht bemerkt
hatte, wurde sofort die Polizei informiert. Doch bislang haben sie ihn noch
nicht wieder einfangen können.« Er seufzte. »Ich muss Sie bitten, mich sofort
zu informieren, sollte Ihr Sohn bei Ihnen auftauchen oder mit Ihnen Verbindung
aufnehmen.« Er zog eine Karte aus seiner Tasche und reichte sie über den Tisch.
»Ich gebe Ihnen am besten meine Handynummer und auch die Nummer der zuständigen …«
»Ich muss keine Verbindung mit Ihnen aufnehmen.«
Er blickte überrascht auf. »Wie bitte?«
»Wenn Martin hier auftauchen sollte, muss ich Sie nicht anrufen. Er
selbst wird es tun. Seien Sie versichert, dass ich dafür sorgen werde. Sobald
ich Gelegenheit habe, mit ihm zu sprechen, werde ich ihn davon überzeugen
können, dass er sich stellen muss.«
Hambrock blickte sie an. War es denkbar, dass Dorothea Probst ihrem
Sohn bei der Flucht behilflich sein würde? Würde sie ihn verstecken und die Polizei
in die Irre führen? Er lehnte sich in dem harten Sessel zurück.
»Als mich die Kollegen baten, bei Ihnen vorbeizusehen, war ich
überrascht, Ihren Namen zu hören. Ich wusste nicht, dass Sie wieder im
Münsterland wohnen. Sie sind damals von hier fortgezogen, nachdem …« Er zögerte und fragte sich, wie er es
ausdrücken sollte. »… diese
schreckliche Sache passiert ist. Nach Ostdeutschland, wenn ich mich recht
erinnere.«
»Nach Neustrelitz.« Sie sah ihn fragend an. »Woher wissen Sie das? Gehörten Sie damals zu den ermittelnden
Beamten? Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
»Nein, ich gehörte nicht dazu. Der Fall Ihres Sohnes hat einfach
viel Aufsehen erregt.« Mehr wollte er darüber nicht sagen.
Sie nickte bedauernd. »Ich habe mich in Neustrelitz nie sehr wohl
gefühlt. Nachdem meine Ehe auseinandergebrochen war und Martin kurz darauf zu
vielen Jahren Gefängnis verurteilt wurde, habe ich beschlossen, hierher
zurückzukehren. Wir haben das Haus
damals nicht verkauft, es war nur vermietet, und so bin ich vor einem Jahr
wieder hergezogen. Ich fahre zwar weiterhin regelmäßig nach Brandenburg, um ihn
zu besuchen. Doch leben möchte ich hier.«
Hambrock konnte sich kaum vorstellen, dass sie mit offenen Armen
empfangen worden war. »Wie ist es denn, wieder hier zu sein?«, fragte er.
»Sie meinen, wegen der Nachbarn?« Sie lächelte. »Es geht schon. Die
meisten wissen zu unterscheiden zwischen dem, was ich getan habe, und dem, was
meinem Sohn anzulasten ist. Es ist zwar ein bisschen Zurückhaltung zu spüren,
doch sie nehmen mich nicht in Sippenhaft.«
»Das freut mich zu hören.« Er wechselte das Thema. »Frau Probst,
wäre es möglich, dass Martin sich zu seinem Adoptivvater flüchtet?«
Die Frau lachte auf, doch Hambrock erkannte, dass hinter dem Lachen
tiefe Traurigkeit lag.
»Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte sie. »Hubert und Martin
hatten damals nach diesen …« Sie
zögerte. »… Vorfällen kein gutes
Verhältnis mehr zueinander. Mein Mann wollte, dass Martin zurück ins Heim geht.
Wir haben uns deswegen oft gestritten. Am Ende hat mein Mann mich vor die Wahl
gestellt: Martin oder er.«
Hambrock blickte sie überrascht an. Sie lächelte betrübt und sagte:
»Also habe ich mich entschieden. Ich liebe Hubert, wir waren beinahe dreißig
Jahre verheiratet. Und doch gab es für mich keinen Moment des Zögerns.« Es
schien sie Mühe zu kosten, weiterzusprechen. »Ich habe …«
»Sie müssen mir das nicht erzählen, Frau Probst.«
»Schon gut. Vielleicht brauchen Sie dieses Wissen, um Martin zu
finden.« Sie richtete den Blick in die Flammen. »Als wir den Jungen bekommen
haben, war er vier Jahre alt. Sie können sich nicht vorstellen, wie er
ausgesehen hat. Ganz klein und ausgehungert. Er war völlig verängstigt und
hatte schon so viel Schreckliches gesehen. Es hat einem fast das Herz
gebrochen. Mit vier Jahren hatte er bereits mehr erlebt, als ein Mensch
überhaupt je erleben sollte.«
Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und blickte ihm fest in die
Augen.
»Martin gehört zu mir. Ich kann das nicht ändern. Ich habe mich für
ihn entschieden, als ich ihn aufgenommen habe. So etwas legt man nicht ab wie
einen
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