Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
jetzt egal. Sie konnten ihm alle gestohlen bleiben. In seinem neuen Leben gab es ohnehin keinen Platz für sie.
Im Gehen blickte er über seine Schulter zurück, Richtung Straße. Grabreihen. Gefrorener Boden. Hier und da ein Abglanz von Scheinwerfern. Sonst nichts.
Keiner, der ihm folgte.
Es würde alles glattgehen.
Und warum auch nicht? Sie waren viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass er am längeren Hebel saß. Er würde das Geld holen und anschließend ohne Umwege in das Motel fahren, das er ausgesucht hatte. Dort würde er die letzten Stunden bis zu seinem Abflug verbringen. Und von dort aus würde er sie anrufen, um ihnen zu verraten, wo er versteckt hatte, was sie so unbedingt haben wollten. Er hatte sich eigens zu diesem Zweck ein zweites Prepaid-Handy besorgt. Es würde keine Spuren geben. Nichts, das sie zu ihm führte. Ganz abgesehen davon, dass das Zeitfenster ohnehin viel zu klein war, als dass sie noch irgendwas hätten ausrichten können. Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte er zufrieden. Deal gelaufen. Alle glücklich. Adieu und auf Nimmerwiedersehen, Leute!
Er zog die Hände aus den Taschen und verlangsamte seinen Schritt. Der garstige Wind, der eine Zeit lang abgeflaut war, frischte plötzlich wieder auf. In den Unebenheiten zu Ackermanns Füßen funkelte frostig erstarrter Matsch im Schein der nächsten Laterne, und hangwärts blitzten ihm aus der Dunkelheit Grablichter entgegen. Wie die Augen lauernder Raubtiere.
Wilhelmy. Angerberg. Köster …
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Da! Da war es! Das Grab, das er gesucht hatte. Der vereinbarte Ort.
Er ging neben dem finsteren Stein in die Knie. Im selben Augenblick begann es zu schneien. Feine, körnige Flocken, weit entfernt von behaglicher Winterromantik. Ackermann hörte ihr Prasseln, als sie auf die steifgefrorenen Efeuranken trafen, während seine Hände den Boden zwischen der marmornen Einfriedung absuchten. Er hatte Handschuhe schon als kleiner Junge störend und überflüssig gefunden. Doch in diesem Augenblick bereute er, dass er keine dabeihatte. Und warum, zur Hölle, war es eigentlich so gottverdammt finster hier?
Die Kälte stach mit tausend Nadeln in sein Gesicht, als er in seiner Manteltasche nach der Taschenlampe tastete. Und beim dritten Versuch gelang es seinen halb erfrorenen Fingern auch, das verdammte Ding einzuschalten. Doch der Schein des Lichts bestätigte nur, was er bereits vermutet hatte: keine Plastiktüte. Nicht unter den Ranken. Nicht hinter dem Stein. Nicht in dem rostigen Lichthäuschen, in dem offenbar schon seit einer halben Ewigkeit keine Kerze mehr gebrannt hatte. Aber so leicht gab er sich nicht geschlagen!
Er hatte ihnen sechseinhalb Jahre seines Lebens geopfert.
2373 Tage für … nichts?
Oh nein, Leute! Das könnt ihr mit mir nicht machen!
Er biss die Zähne zusammen und suchte weiter. Erst als er ganz sicher war, dass er nichts übersehen hatte, richtete er sich auf und strich sich die feuchten Haare aus der Stirn, während ein dumpfer Zorn in ihm aufstieg.
Oder hatte er doch etwas falsch verstanden?
Ackermann blickte auf seine Hände hinunter, die vor Kälte eine bläulich rote Farbe angenommen hatten. Etwas in ihm sträubte sich mit aller Vehemenz dagegen, sich mit dieser Niederlage abzufinden. Auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass sie allenfalls einen Etappensieg erringen konnten. Er hielt im wahrsten Sinne des Wortes alle Trümpfe in der Hand.
Aber diese Plänkeleien kosteten Zeit.
Seine Zeit.
Ich will keine Umwege mehr gehen, dachte er. Und ich will mich, verdammt noch mal, auch nicht zu Umwegen zwingen lassen!
Als er ein leises Knirschen von Schritten hinter sich wahrnahm, hob er überrascht den Kopf.
Das wagen sie nicht!,
war das Erste, was er dachte.
Ihre Zeit ist lange vorbei. Und mit ihr der Einfluss, den sie hatten. Sieh sie dir doch an! Es kann unmöglich sein, dass sie …
Weiter kam er nicht.
Nur den Bruchteil einer Sekunde später sah er gefrorenes Efeu, das auf ihn zustürzte, während immer mehr Schnee vom Himmel fiel. Tonnenweise Schnee. Ackermann fühlte Eis in seinem Kragen. In den Augen. Eis sogar noch im Mund.
Eine Stimme sagte: »Mach!«
Und eine andere: »Ich hab ihn.«
Zeit für Ihre Grundreinigung, Herr Ackermann!
Waschtag!
Die Angst krallte sich in jede Faser seines Körpers. Ein eisiger Schraubstock, der ihn lähmte und zugleich hellwach machte. Er fühlte, wie sein Kopf nach hinten gerissen wurde. Etwas Hartes, das gegen seine Zähne schlug.
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