Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
Bewohner gelebt?«, gab Elisabeth Fersten in solchen Fällen für gewöhnlich zurück. »In den Tropen?«
»Die Einstellung einer zentralen Heizungsanlage ist – wie fast alles, was eine größere Zahl von Menschen betrifft – ein Kompromiss.« Das eine musste man Irén Theunes wirklich lassen: Sie war geradeheraus und dabei erfreulich unsentimental. »Und es ist bedeutend einfacher, ein Fenster zu öffnen, als ständig zu frieren.«
»Nicht, wenn man dreiundachtzig ist und eigentlich seit einem halben Jahrhundert eine neue Hüfte bräuchte«, widersprach Elisabeth Fersten und blickte sehnsüchtig zu den beiden hohen Fenstern ihres Zimmers hinüber, die auf den Park hinausgingen.
Wie gewöhnlich hatte sie die Vorhänge nicht zugezogen. Nicht dass sie Platzangst hätte wie einige ihrer Mitbewohner, die in ihrer Jugend verschüttet gewesen oder von ähnlich unangenehmen Kriegserlebnissen geprägt waren. Aber wenn man, so wie sie, fast sein ganzes Leben in einem Labor zugebracht hatte, wusste man einen freien Blick in den Himmel sehr wohl zu schätzen.
Elisabeth Fersten wartete einen Moment, bis sich ihr Körper an das aufrechte Sitzen gewöhnt hatte. Dann schwang sie ihre schmerzenden Knochen aus dem Bett. Sah man von den altersbedingten Wehwehchen einmal ab, war ihr Leben hier in Tannengrund durchaus bequem, das war nicht zu leugnen. Die Residenz erfreute sich eines hervorragenden Rufs und bot mit ihrem weitläufigen Park, den liebevoll gestalteten Rückzugsmöglichkeiten und der unaufdringlichen Rundum-Betreuung ein äußerst angenehmes Ambiente fürs Wohnen im Alter. Darüber hinaus war das Essen ganz ausgezeichnet.
»Also, für
den
Preis kann man das ja wohl auch erwarten«, schimpfte Jamila Hartwig, ihre Tischnachbarin in der Cafeteria. Doch das sah Elisabeth Fersten ein wenig anders. Die Tatsache, dass man viel Geld für etwas bezahlt hatte, garantierte ihrer Erfahrung nach noch längst nicht dafür, dass man auch bekam, was man sich erhoffte!
Sie schlüpfte in die Pantoffeln, die Keela ihr am Abend gewissenhaft zurechtgestellt hatte, und überlegte, warum sie überhaupt aufgewacht war. Normalerweise ging sie gegen drei Uhr früh zur Toilette und schlief danach sofort wieder ein. Doch jetzt zeigte die Uhr auf ihrem Nachtschrank erst wenige Minuten nach Mitternacht. Elisabeth Fersten strich sich mit beiden Händen durch die Haare, die sich anfühlten, als stünden sie in alle Richtungen von ihrem Kopf ab. Hatte sie etwas vergessen? Sollte sie etwas erledigt haben, das sie noch nicht erledigt hatte?
Sie runzelte die Stirn und tappte dann mehr oder weniger ziellos zum Fenster hinüber. Die ersten Schritte gerieten ein wenig holprig, was an ihrer Hüfte lag. Doch zu der oftmals angeratenen Gehhilfe konnte sie sich einfach nicht durchringen.
»Eines schönen Tages brechen Sie sich den Oberschenkelhals«, pflegte Dr. Gautsch, der Arzt des Hauses, ihr mit schonungsloser Direktheit auszumalen. »Und dann sind Sie für den Rest Ihres Lebens ans Bett gefesselt, mit Schläuchen an allen Ecken und Enden, und kommen überhaupt nicht mehr an die Luft.« Eine kurze Pause, gefolgt von einem schelmischen Lächeln. »Also, ich an Ihrer Stelle würde mich lieber für den Rollator entscheiden.«
Elisabeth Fersten musste beim Gedanken daran lächeln. Sie drehte sich wieder zu der Uhr auf ihrem Nachtschrank um. Seltsamerweise war Zeit etwas, das für sie noch nie eine Rolle gespielt hatte. Sie hatte nie einen festen Partner gehabt, und beruflich war sie als Pharmakologin in der Forschungsabteilung eines großen Arzneimittelkonzerns in ihrer Zeiteinteilung weitgehend flexibel gewesen. In der Praxis hatte das bedeutet, dass sie irgendwann nach dem Frühstück ins Labor gefahren und selten vor zehn, halb elf Uhr abends zurückgekehrt war. Niemand hatte sich gesorgt oder beschwert, wenn sie nicht zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause gewesen war. Niemand hatte erwartet, dass sie an Dinge wie Mittagessen, Pausen oder Einkaufen dachte. Und es hatte niemals auch nur die geringste Rolle gespielt, ob sie einen Mantel einen Tag früher oder später aus der Reinigung holte oder ob eine bestimmte Sorte Joghurt im Haus war. Kurz gesagt, ihr Leben war jenseits von Banalitäten und festen Zeitstrukturen verlaufen, und bis heute hatte Elisabeth Fersten Mühe, sich pünktlich zu den Mahlzeiten in der Cafeteria einzufinden oder dem Mann vom Einkaufsservice zu sagen, dass sie am nächsten Tag frisches Mineralwasser benötigte.
Als sie merkte,
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