Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
auch diesen – in Elisabeth Ferstens Augen ebenso unnötigen wie ungehörigen – Eingriff in die Privatsphäre der Bewohner wusste Irén Theunes natürlich mit vernünftig klingenden Argumenten zu rechtfertigen.
Schnelle Hilfe im Notfall. Alte Leute und Schlüssel. Was, wenn doch mal ein Feuer ausbricht, bla, bla, bla …
Sie ließ den Fenstergriff los und kehrte nachdenklich zu ihrem Bett zurück. Das war doch wieder mal typisch! Die Küche und die Gemeinschaftsräume sperrten sie ab, damit nichts kaputtging, aber dass zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand in ihr Zimmer spazieren konnte, war ihnen egal! Elisabeth Fersten hielt sich an der Bettkante fest und manövrierte ihren Körper vorsichtig in die richtige Position, bevor sie die Pantoffeln von den Füßen streifte und die Beine hochzog. Dabei lauschte sie nach den Schritten, die sie gehört hatte. Doch draußen auf dem Gang war alles still.
Bestimmt eine von den Schwestern, dachte sie noch.
Dann war sie auch schon wieder eingeschlafen.
Freitag, 12 . Dezember
4
»Bitte!«
»Was denn?«
»Die da hinten, ja, Winnie?«
Winnie Heller ging in die Hocke, um mit der Tochter ihres Vorgesetzten auf Augenhöhe zu sein. »Welche meinst du?«
Nina Verhoevens Zeigefinger presste sich gegen die Scheibe des Aquariums, als habe sie vor, dort ein Loch zu bohren. »Na, die da! Die auf dem Stein.«
Winnie betrachtete das unscheinbare graubraune Tier, das vor einer Wand aus Algen hockte und ihr geradewegs in die Augen zu blicken schien. »Bist du sicher, dass du die willst? Ich meine, sie wirkt ein bisschen …«
»Die!«, wiederholte Nina kategorisch.
»Also schön«, wandte sich Winnie Heller an die Verkäuferin, die sich diskret im Hintergrund hielt. »Wir nehmen die da drüben.«
Die Frau nickte und zog sich eine Trittleiter heran. »Kennen Sie sich denn ein bisschen aus mit Welsen?«
»Ja«, antworteten Winnie und Nina unisono.
Wie Sie meinen,
sagte der Blick der Verkäuferin.
War ja nur ’ne Frage. Und kommen Sie mir hinterher bloß nicht damit, dass Sie das Vieh nie zu Gesicht kriegen und sich was anderes vorgestellt hätten. Das sagen sie nämlich alle.
»Warum wolltest du ausgerechnet die?«, fragte Winnie und betrachtete Nina Verhoevens zartes, aber ausdrucksstarkes Profil. Es war das erste Mal, dass sie allein mit der Tochter ihres Vorgesetzten unterwegs war, und sie musste zugeben, dass es bislang erstaunlich gut gelaufen war. Etwas, das sie ehrlich verwunderte. Immerhin hatte sie – sah man von einer fünf Jahre jüngeren Schwester einmal ab – nie nennenswert mit Kindern zu tun gehabt, und Elli, die schon mit fünf Jahren freiwillig mehrere Stunden täglich am Klavier verbracht hatte, war da vermutlich wirklich kein Maßstab. Umso mehr erstaunte es sie, wie unkompliziert sich der Umgang mit Verhoevens Tochter gestaltete.
»Kann ich Sie was fragen?«, hatte ihr Vorgesetzter in seiner üblichen hölzernen Art vor ein paar Tagen begonnen, und Winnie Heller hatte schon befürchtet, dass es um etwas richtig Unangenehmes ging. Doch dann hatte Verhoeven umständlich erklärt, dass sich seine Tochter vom Nikolaus nichts anderes als einen Nachmittag »nur mit Winnie« gewünscht habe. Was immer sie sich darunter vorstelle. Ihm sei selbstverständlich bewusst, dass er kein Recht habe, seine Kollegin diesbezüglich in Anspruch zu nehmen, aber Fragen koste ja schließlich nichts, und falls Winnie sich eventuell vielleicht doch …
»Na klar, mach ich doch gern«, hatte sie die Sache abgekürzt. »Ich meine … Natürlich nur, wenn Sie mir Ihre Tochter für ein paar Stunden anvertrauen würden, und wenn Sie …«
»Nina wird einfach begeistert sein«, war Verhoeven ihr daraufhin ziemlich erleichtert ins Wort gefallen. »Sagen Sie einfach, wann es Ihnen passt.«
Und hier standen sie nun also, Seite an Seite, in einem Zoogeschäft und kauften einen Wels. Zuvor hatten sie Eis gegessen. Zwei Kugeln für jeden, damit es hinterher nicht hieß, das arme Kind habe sich am Winnie-Tag den Magen verdorben. Und beim Eis hatten sie sich unterhalten wie alte Freundinnen. Über die vielfältigen Talente von Dominik, Ninas Kindergartenfreund und erklärtem Favoriten, den Winnie ebenfalls kannte. Über die Rettung von Walen, das Hörnchen aus
Ice Age,
das sie beide besonders mochten, und über verschiedene Möglichkeiten zur zuverlässigen Abdichtung von Abflussrohren mittels Knetmasse und Silikon (Winnie hegte die Vermutung, dass Verhoevens Tochter gerade auf letzterem
Weitere Kostenlose Bücher