Schneetreiben
Augen und ließ ihren Blick über die mit Badeanzügen und Handtüchern bunt behängten Strandkörbe gleiten, die wegen der um sie aufgebauten Windfänge und Sandwälle an kleine Festungen erinnerten. Fast überall saßen Familien zusammen, picknickten, lasen, spielten Karten oder sonnten sich in der prallen Julisonne. Carla war nirgends zu entdecken. Das monotone Schlagen der Gummibälle auf die Beachtennisschläger, das sich mit dem Meeresrauschen und den fröhlichen Stimmen der Urlauber mischte und sie eben noch so herrlich schläfrig gemacht hatte, schien Carolin nun dumpf und unangenehm laut.
»Sie wird doch nicht allein schwimmen gegangen sein?«
Carolin blickte auf das glitzernde Wasser der Ostsee hinaus, wo die Köpfe der Urlauber zwischen Gummibällen und bunten Matratzen in der Melodie der sanften Wellen auf und ab hüpften.
»Carla ist niemals ohne mich schwimmen gegangen, Und wenn, wir haben doch das Seepferdchen«, sagte Hanna.
Carolin wünschte sich, Hannas leicht dahingesagte Äußerung hätte sie zu beruhigen vermocht. Zwar schien es auch ihr eher unwahrscheinlich, dass Carla allein baden gegangen war. Sie hatte den Mädchen immer wieder eingeschärft, sie erstens darüber zu informieren, wenn sie baden wollten, und zweitens zusammenzubleiben, und in aller Regel hielten sich die Mädchen an derartige Absprachen. Was Carolin dagegen dennoch Sorgen bereitete, war der Gedanke, dass Carla vielleicht, nur um ihren Eimer zu füllen oder Muscheln zu waschen, zu weit ins Wasser gegangen und dabei unglücklich gestürzt und abgetrieben worden war. Selbst wenn es nichtbesonders windig war und sich die Wellen sanft und träge den Strand hinaufschoben, war die Strömung nicht zu unterschätzen.
Vielleicht ist sie nur zur Toilette gegangen, fuhr es ihr durch den Kopf.
»Bleib du hier«, sagte sie zu Hanna. »Ich will mal nachsehen, wo Carla abgeblieben ist.«
Sie lief den Strandabschnitt bis zum FKK-Strand und zurück ab und versuchte, die Erinnerung an ihren nächtlichen Traum zu verdrängen, der jetzt plötzlich in ihr Gedächtnis rückte. Sie vermochte sich an den Inhalt des Traums nicht zu erinnern, nur ein paar diffuse Bilder waren ihr im Kopf hängengeblieben, und doch beschlich sie plötzlich das ungute Gefühl, der Traum hätte sie vor etwas Schrecklichem warnen wollen. Die Sonne brannte auf ihren Schultern, und sie schwitzte, während sie zu den grünen Holzbauten hinauflief, in denen sich die Toiletten befanden. Carolin klopfte gegen jede verschlossene Tür und steckte, wenn sie keine Antwort bekam, ihren Kopf in die ihr so verhassten, stickigen engen Holzkammern. Von Carla fand sich aber keine Spur, daher schlug sie die Türen wieder zu. Sie rannte zur Straße und zu dem Kiosk hinauf, wo die Hitze des Pflasters unter ihren Fußsohlen brannte – ebenfalls vergebens.
In der Hoffnung, Carla sei inzwischen wieder wohlbehalten bei Hanna aufgetaucht, kehrte sie zu ihrem Strandkorb zurück, stellte aber mit wachsender Unruhe fest, dass Hanna allein unter dem Schirm saß. Carolin war unerträglich heiß, und ihr schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als sie nach einer guten halben Stunde erneut zum Wasser hinunterlief. Immerhin wehte hier eine angenehm leichte Brise, und ihreWaden wurden von dem kühlen Salzwasser umspült, während sie zum Horizont blickte und sich mahnte, nicht in Panik zu geraten.
Soll ich die Polizei verständigen?, fragte sie sich, während sie mit dem Handrücken über ihre Stirn strich. Der Schweiß drang inzwischen aus jeder Pore ihres Körpers. Gerade wollte sie erneut zur Straße hochlaufen, als sie meinte, in der Ferne, nahe einer Boje, etwas oder jemanden im Wasser treiben zu sehen. Sie kniff ihre Augen zusammen. Die Sonne stach ihr unangenehm in die Augen und machte ihr die Fernsicht nahezu unmöglich.
»Carla?«, schrie sie voller Panik, stolperte ins Wasser und ignorierte die Steine und Muscheln, die ihr in die Füße schnitten, bevor sie sich weit genug vom Strand entfernt hatte und endlich losschwimmen konnte. Ihr Puls raste durch den plötzlichen Temperatursturz, und die Angst pochte in ihren Schläfen.
»Bitte nicht!«, betete sie.
Sie hustete, weil ihr das Salzwasser in den Mund und die Kehle schwappte, während sie in hastigen Zügen das trübe Wasser mit den Armen teilte. Endlich schob sich eine Quellwolke vor die Sonne, und Carla konnte sehen, was dort ziellos und schlaff im Meer herumdümpelte. Sie klammerte sich für einen Moment an der Boje fest und
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