Schneetreiben
er sie. »Keiner von uns hat das vorhersehen können.«
Sie standen eine Weile schweigend beieinander und weinten, bevor Carla ihm das Pferd überließ und ihren Weg zum etwa zweihundert Meter entfernten Gutshaus antrat. Vor dem imposanten Portal des um die Jahrhundertwende erbauten weißen Herrenhauses parkte ein blauer BMW. Carla war deshalb sicher, dass die beiden Kommissare, die ihr am Vorabend die Nachricht von Hannas Tod überbracht hatten, bereits eingetroffen waren. Langsam stieg sie die breite Steintreppe zum Eingang hinauf. Als sie die Halle betrat, kroch die Labradorhündin Smilla sofort aus ihrem Hundekorb, streckte ihre steifen Glieder und kam schwanzwedelnd auf Carla zu. Sie war schon lange zu alt, um Carla wie früher auf ihren Ausritten zu begleiten. Carla ging in die Hocke und streichelte dem treuen Tier über den Kopf und die ergraute Schnauze. Die Hündin hatte sich die ganze Nacht nicht von ihrem Platz an der Tür wegbewegt und wartete offensichtlich auf Hanna. Als Carla ihre Jacke und ihre Reitstiefel abstreifte, kroch die Hündin zurück in ihren Korb, legte den Kopf auf ihren Vorderläufen ab undrichtete ihren Blick zur Tür. Smilla hatte weder am Vorabend noch am Morgen etwas gefressen, und Carla konnte nur hoffen, die Hündin später wenigstens zu ein paar Hundekeksen überreden zu können.
Um wenigstens ihre Reitkleidung ablegen zu können, eilte Carla die imposante und aufwendig verzierte Eichentreppe in das Obergeschoss hinauf in ihr Bad. Dort wusch sie sich ihre Hände und das Gesicht mit warmem Wasser und richtete ihr zu einem Knoten aufgebundenes blondes Haar. Sie vermied es dabei, länger als nötig in den Spiegel zu sehen. Es war nicht die Konfrontation mit den dunklen Ringen unter ihren geschwollenen und rotgeweinten Augen, die sie umgehen wollte, sondern die Angst, in ihrem Spiegelbild das schmale Gesicht ihrer Schwester zu entdecken und wieder aus der Fassung zu geraten. Alles, was geschehen war und was sie heute nicht mehr ändern konnte, hatte im Sommer 1978 begonnen, an jenem furchtbaren Tag.
»Können wir jetzt endlich zum Kiosk gehen, Mama?«
Carolin seufzte und schlug nur widerwillig die Augen auf. Sie hatte sich vom sanften Rauschen der Ostsee und den Strandgeräuschen dieses herrlichen Sonntagnachmittags einlullen lassen und war darüber beim Lesen in ihrem Strandkorb eingedöst. Die Sonne stand hoch am Himmel, nur ein paar Schleierwolken, die im sanften Wind gemächlich vorüberzogen, schoben sich hier und da davor. Jetzt setzte sie sich auf und sammelte die Seiten ihrer Zeitung zusammen, die ihr von den Knien gerutscht waren. Ihre Tochter Hanna saß vor ihr unter einem gelben Sonnenschirm und schob mit ihren Händen lustlos den warmen feinen Sand hin und her.
»Kriege ich jetzt endlich ein Eis?«, maulte sie und deutete sichtlich neidisch zu dem Mädchen im Nachbarstrandkorb hinüber, die dort, in ihr Badehandtuch eingehüllt, saß und eine übergroße Waffel mit Softeis aß.
»Nun starr doch nicht so dorthin«, tadelte Carolin. Ihr stand der Sinn nicht im Geringsten danach, zum Kiosk hinaufzugehen, wo die Badegäste gerade jetzt zur Mittagszeit eine gefühlte Ewigkeit in der brütenden Hitze anstanden und der herrliche Duft von Salz, Sonnencreme und Sand von dem fettiger Pommes Frites und Bratwurst überlagert wurde.
»Bitte, Mama?« Hanna schaute ihre Mutter mit einer Miene an, die gleichzeitig derart herzerweichend wie einstudiert wirkte, dass Carolin unweigerlich lachen musste.
»Warum spielst du mit Carla nicht noch wenigstens eine Runde Beach-Tennis oder Boccia?«, schlug sie vor, konnte Hanna aber ansehen, dass ihr Vorschlag auf wenig Gegenliebe stieß.
»Wo ist Carla überhaupt?«, fragte sie und blickte zum vorderen Strandabschnitt hinüber, wo die Mädchen meist zu finden waren und mit den anderen Kindern Sandburgen und Staudämme bauten. Carla war nicht zu entdecken.
»Wo ist sie denn hingegangen?«, fragte Carolin und stellte bei einem Blick auf die Uhr mit Schrecken fest, dass sie offenbar tatsächlich mehr als eine halbe Stunde geschlafen hatte.
Hanna zuckte mit den Schultern. »Muscheln suchen oder so?«
»Was heißt denn ›oder so‹? Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Weiß nicht, vorhin irgendwann«, sagte Hanna schulterzuckend, und Carolin spürte sogleich die Sorge um das sechsjährige Mädchen in sich aufkeimen.
Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie stand auf, legte ihre Hand zum Schutz vor der Sonne wie einen Schirm über ihre
Weitere Kostenlose Bücher