Schneetreiben
den Beenden-Button gekommen, verstehen Sie?«, piepste der Polizist.
Braun studierte das Display und stellte fest, dass für die Zeit unmittelbar vor dem Absturz des Opfers keine Telefonate registriert waren. Es lag also nahe, dass die Verstorbene nicht mehr dazu gekommen war, die Nummer zu Ende zu wählen.
»Sie waren nicht zufällig in der Lage, sich die Nummer einzuprägen, oder?«, fragte der Hauptkommissar so ruhig er konnte.
Der Polizeibeamte sagte nichts, sondern schaute nur betreten zu Boden. Braun schloss für einen kurzen Moment die Augen. Wie wahrscheinlich mochte es sein, dass eine Frau freiwillig vom Balkon sprang, wenn sie gerade eine Telefonnummer anwählte?
4
Eine hauchdünne Schneeschicht bedeckte das Laub und die Zweige des überfrorenen Bodens wie ein durchsichtiger Schleier. Es war ein klirrendkalter Morgen. Carla ritt mit dem kräftigen braunen Wallach den ausgetretenen Pfad der Böschung hinunter, der aus dem Wald hinaus zurück zu ihrem Gutshof führte. Noch vor Tagen waren die Tiere an dieser Stelle im Schlamm versunken, und die tief im Boden eingefrorenen Hufabdrücke und Furchen erinnerten an den Dauerregen vergangener Novembertage. Es war nahezu windstill, und neben dem rhythmischen Schnaufen des Pferdes und dem Kratzen der Hufe auf dem eisigen Untergrund war kaum ein Geräusch zu vernehmen. Rechts und links des Weges ragten die kahlen Äste der Bäume in das undurchdringliche Grau des Himmels empor. Nur vereinzelt fanden sich ein paar vertrocknete braune Blätter, die dem Regen und den Herbststürmen getrotzt hatten und wie vergessen an den Ästen hingen.
Carla strich mit ihren Lederhandschuhen über den Hals des Pferdes, das ihre Trauer nicht nur zu spüren, sondern, so meinte sie, sogar zu teilen schien. Am Vorabend hatte sie die Nachricht von Hannas Tod erreicht. Sie machte sich seither unendliche Vorwürfe. Warum hatte sie die Vorzeichen nicht zu deuten gewusst und Hanna besser beschützt? Sie waren so eng verbunden, und doch hatte sie das Unheil nicht vorhergesehen, war nicht genug gewarnt gewesen und hatte ihre Schwester mit ihrer Angst alleingelassen. Carlaließ die Bäume hinter sich. Die weißgepuderten weiten Felder tauchten vor ihr auf. Auf einem brachliegenden Feld zankten sich zwei Krähen schreiend und das Gefieder spreizend um Beute. Carla zügelte das Pferd zum Stehen, blickte über das flache weite Land und begann hemmungslos zu schluchzen. Sie ließ sich nach vorne fallen und vergrub ihre Hände in der Mähne des Tieres, das ihrer Schwester gehört hatte. Sie glaubte, von dem Schmerz, den sie empfand, innerlich zerrissen zu werden. Es war, als hätte sie mit der Zwillingsschwester einen Teil von sich selbst verloren. Carla richtete sich nach einer Weile wieder auf und trieb das Pferd in den Galopp. Die Kälte brannte bei jedem Atemzug in ihrer Kehle und in ihrem tränennassen Gesicht. Das Pferd stob mit dampfenden Nüstern gehorsam voran, bis sie es behutsam zügelte und einige Minuten vor Erreichen der Stallungen im Schritt auslaufen ließ.
Carla war sehr erschöpft und zerschlagen und hatte dennoch das Gefühl, dass ihr der Ausritt gutgetan hatte. Sie war nach einer ruhe- und schlaflosen Nacht direkt nach Sonnenaufgang in den Stall gegangen und hatte das Pferd gesattelt. Sie ritt mit losem Zügel auf den mit Kopfsteinpflaster versehenen Vorplatz des u-förmig angeordneten Backsteinbaus zu, in dem sich links neben dem Reitplatz die Stallgebäude befanden. Schon von weitem erkannte sie den Stallmeister Johannes Hansen, der seit vierzig Jahren auf dem Hof der Familie arbeitete. Sein Rücken schien ihr in der grünen Steppweste, die er über einem dunkelbraunen Fließpulli trug, noch gebeugter als sonst. Carla hatte keine Zweifel daran, dass er bereits Bescheid wusste. Er ergriff die Zügel des Wallachs, als sie ihn erreicht hatte, und blickte aus wässrigen blauen Augen wortlos zu Carla auf. Solange Carla denkenkonnte, war Hansen auf dem Hof gewesen. Tatsächlich hatte ihr Vater ihn als gelernten Pferdewirt eingestellt, als die Schwestern knapp fünf Jahre alt gewesen waren. Alles, was die Mädchen über Pferde wussten, hatte Hansen ihnen beigebracht. Besonders nach dem Tod ihrer Mutter war er für sie und ihre Schwester weit mehr gewesen als ein Angestellter.
Carla stieg vom Pferd ab. Ihre Beine fühlten sich plötzlich wieder so schwach und taub an, dass sie zusammensackte. Der Stallmeister fing sie auf.
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Carla«, beschwor
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