Schneetreiben
zu verharren und zu überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Dann hörte Carla, wie er ganz langsam um das Bett herumschlich und direkt neben ihr stehenblieb. Es war ein fürchterliches Gefühl, ihn in ihrem Nacken zu spüren, seinen Atem zu riechen und zu fürchten, dass er jede Sekunde über sie herfallen konnte. Carla wagte es nicht einmal, auch nur zu blinzeln. Sie hielt sich an der Waffe fest und hoffte,dass er das Beben ihres Körpers nicht sehen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde auch ihre Nachttischschublade hörbar aufgezogen. Es raschelte, die Schublade wurde wieder zugeschoben und dann: Totenstille. Carla meinte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Ihr stand der kalte Schweiß auf der Stirn, und ihr wurde schlecht. Er schien bewegungslos zu verharren, und sein Atem ging keuchend und stoßweise. Sie spürte förmlich, wie er sie mit Blicken verschlang. Der Geruch des Alkohols erfüllte den Raum, und dann war da noch ein süßlicher Geruch, den sie nicht einzuordnen vermochte.
»Bitte verschwinde!«, betete sie. Es kroch ihr heiß und kalt den Rücken hinauf und hinunter. Sie hätte nicht sagen können, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren, bevor sie begriff, dass er offenbar nicht vorhatte, den Raum zu verlassen. Denn plötzlich beugte er sich über sie, und sie spürte die Hitze seines Atems direkt an ihrem Ohr. Sie öffnete die Augen, sah, dass eine große, graue Hand die Decke auf der Innenseite des Bettes berührte und zögerte nicht mehr.
Gib mir Kraft, Hanna, dachte sie und gab, noch während sie sich umdrehte, einen Schuss ab, der dumpf durch die Nacht hallte. Der Mann sackte unmittelbar über ihr zusammen. Sie schrie. Sein massiver Körper lag auf ihr und nahm ihr die Luft. Der heiße Lauf der Pistole brannte wie ein offenes Feuer auf ihrem Bauch, und sie meinte zu ersticken, während sie versuchte, die Waffe und ihre verdrehte Hand herauszuziehen. Sein Speichel floss über ihren Hals. Ihr wurde schwindelig. Sein Körper begrub sie förmlich unter sich und schien sie zu erdrücken. Ihre Gesichter rieben sich fast aneinander, während sie sich unter ihm hindurchzuzwängenversuchte und ihre heißen Tränen sich mit Blut vermischten. Sie winselte und stemmte sich mit aller Macht gegen seine Brust. Sein Keuchen und Stöhnen dröhnte in ihren Ohren, und er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Carlas Schreie drangen durch die Nacht, als sie die Augen schloss, weil das, was sie sah, schlimmer war als jeder Alptraum.
17
Gähnend stieg Braun die Steintreppe zur Villa Frombach hinauf. Das Haus und der Vorplatz waren hell erleuchtet, während man die angrenzenden Koppeln und Felder in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Braun war alles andere als begeistert gewesen, als man ihn um kurz vor fünf Uhr morgens aus dem Bett geklingelt hatte. Er hasste Einsätze zu so früher Stunde, und ein Blick auf die gusseiserne Türklinke, von der ein Mitarbeiter der Spurensicherung gerade Blutanhaftungen abkratzte, hob seine Laune auch nicht gerade. Der Mann winkte ihm mit seinem Gummihandschuh flüchtig zu, als Braun an ihm vorbei in die warme Halle hineinschlurfte.
»Moin«, rief er laut und schaute auf die Mitte der Treppe, wo ein junger Kollege von der Spurensicherung auf der Tastatur einer Digitalkamera herumdrückte. Er schien, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mit seinen Bildern nicht zufrieden zu sein, und war so vertieft in seine Arbeit, dass er erst auf Braun aufmerksam wurde, als der sich laut und vernehmlich räusperte. Dann sah er von seinem Display auf und starrte Braun für einen Moment gedankenverloren an.
»Moin, ich glaub, Ihr Kollege ist schon oben«, sagte er endlich und deutete mit dem Daumen hinter sich die Treppe hinauf, bevor er aufstand und die Kamera auf das Geländer ausrichtete. Dabei stellte er sein linkes Bein mehrere Stufen unter dem rechten ab, was derart ungelenk und wackelig aussah, dass Braun instinktiv einen Schritt nach rechtsmachte, bevor er hinaufstieg. Als er ungefähr die Höhe des jungen Mannes erreicht hatte und das Geländer von oben betrachten konnte, begriff er, was dieser abzulichten versuchte. Die Blutanhaftungen auf dem hölzernen, dunklen Handlauf waren auf den ersten Blick zwar schwer zu erkennen, sprachen jedoch eine eindeutige Sprache. Hier hatte ohne Zweifel jemand seine blutigen Hände abgewischt, während er die Treppe hinauf- oder hinuntergegangen war.
»Das ist ganz schlecht zu fotografieren hier!«, schimpfte der junge Mann,
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