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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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aus Grauen und Faszination, die sie fast glauben ließ, Hanna physisch neben sich zu spüren.
    Carla zuckte zusammen, als das Kind im roten Regenmantel sich plötzlich umdrehte und nicht mehr Kind, sondern Monster war und dem Mann in dem Film die Kehle durchschnitt. Erst jetzt erwachte sie aus ihrer Trance und schaltete ab. Dann verkroch sie sich unter ihrer Decke und machte sich so klein, wie es nur ging. Wir hätten das lieber nicht anschauen sollen, oder?, hörte sie plötzlich Hannas leise Kinderstimme. Gleich darauf war sie mit einem Mal sicher, die Stille mit jemandem zu teilen. Sie setzte sich auf und starrte erneut zur Tür. Und tatsächlich: Als hätte sie es heraufbeschworen, vernahm sie plötzlich auf dem Flur Geräusche. Es war wie in jener Nacht, als Hanna sie bei den Schultern gepackt und geschüttelt hatte.
    Ich habe Schritte gehört, Carla. Ich täusche mich nicht, er ist im Haus, schien ihr Hanna zuzuflüstern, und Carla stockte der Atem. Denn je intensiver sie jetzt in den Flur hinaus lauschte, desto sicherer war sie, dass sie wirklich Schritte vernahm. Ganz leise und schlurfend näherte sich unten jemand der Treppe. Sie presste sich die Hand vor den Mund. Das Knarren der untersten Stufe der Treppe ließ sie zusammenzucken. Sie hatte es in ihrem Leben zu oft gehört, um sich zu täuschen. Jemand war auf dem Weg zu ihr nachoben. Irgendwo draußen schrie jetzt eine Katze, und es klang, als würde jemand ein verzweifeltes Kind quälen.
    Hanna, mein Gott! Mit einem Mal waren all die Gedanken wieder da. Die Krähe, der offene Schrank, Smilla. Jetzt schienen ihr das alles plötzlich unheilvolle Vorboten dessen zu sein, was sie in dieser Nacht erwarten sollte.
    Er bringt mich um, Carla. Vielleicht bringt er auch uns beide um, hörte sie Hanna erneut flüstern, und die Worte hallten in ihrem schmerzenden Kopf wider. »Hanna, hilf mir«, flüsterte Carla, und war jetzt sicher, hören zu können, dass die Schritte den oberen Treppenabsatz erreicht hatten. Kein Zweifel. Carla fingerte zitternd auf dem Nachttisch nach ihrem Handy, griff aber so ungeschickt danach, dass es ihr aus der Hand und auf den Teppich fiel. Sofort lehnte sie sich kopfüber über die Bettkante und forschte mit ihren unruhigen Händen in der Dunkelheit danach. Sie wischte über den Boden und stieß dann, anstatt das Mobiltelefon zu greifen, so unglücklich dagegen, dass es unter das Bett rutschte. Jetzt war es auf einmal mucksmäuschenstill.
    Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, kniete sich davor und suchte hektisch den Boden darunter ab. Die Schritte wurden lauter und kamen unausweichlich näher. Wieder starrte Carla zur Tür und widerstand dem Impuls, um Hilfe zu schreien. Warum sollte sie? Hier draußen in der Einöde würde sie niemals jemand hören können. Nie in ihrem Leben hatte sich Carla so nackt und so hilflos gefühlt wie in diesem Moment. Sie traf innerhalb des Bruchteils einer Sekunde eine Entscheidung, zog ganz leise ihre Nachttischschublade auf und griff nach der Pistole, die sie Hanna in jener unheilvollen Nacht weggenommen hatte. Wie sehr hatte sie Hanna damals dafür verflucht, dass sie diese Waffean sich genommen hatte. Monatelang hatte sie die Pistole in einem Schrank im Büro eingeschlossen gehabt, um sie irgendwann zur Polizei zu bringen, und es dann doch nicht getan, um nicht in Erklärungsnöte zu geraten. Seit Hanna tot war und sie sich täglich unsicherer fühlte, lag die Waffe in ihrem Nachtschrank.
    Den Finger am Abzug, huschte Carla gerade noch rechtzeitig unter die Decke, um aus dem Augenwinkel wahrnehmen zu können, dass die Tür ganz leise und langsam aufgeschoben wurde. Sie stellte sich schlafend und traute sich nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Viel zu groß war ihre Angst, der Eindringling könnte sofort bemerken, dass sie wach war. Ihr Herzschlag dröhnte ihr so laut in den Ohren, dass sie fürchtete, er müsse es auch hören können. Sie lag auf der Seite, den Kopf in Richtung der Bettseite ihres Mannes geneigt, und hielt die Augen fest verschlossen. Ihre Hände umklammerten den Lauf der Pistole. Fast lautlos schob jemand die Schublade von Konrads Nachtschrank auf und wühlte darin herum. Ein gewöhnlicher Dieb? Die Zeit schien ihr wie in Zeitlupe zu vergehen.
    Carla nahm den beißenden Geruch von Alkohol wahr, und sie glaubte fast, sich vor Angst und Ekel übergeben zu müssen. Sie war sicher, dass es ein Mann war, der dort stand und dessen Atmung sie vernahm. Er schien einen Moment

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