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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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den Anna nach der Geburt gewärmt hatte und nie mehr hatte loslassen wollen. Sie schluchzte hemmungslos, weil das Frühchen einfach aufgehört hatte zu atmen. Damals hatte Anna geglaubt, auch ein Teil von ihr sei mit Marie gestorben.
    Nach einer Weile beruhigte sich Anna wieder ein wenig, atmete tief durch und trocknete ihre Tränen. Erst jetzt spürte sie, dass sie nicht allein war. Anna wandte sich um und entdeckte Tom, der, seine Hände tief in den Taschen seiner gefütterten Lammfelllederjacke vergraben, etwas abseits an einem Baum lehnte. Er lächelte, als sich ihre Blicke begegneten. Sie winkten einander zu, und Tom kam über den schneebedeckten Weg auf sie zu. Als er sie in seine Arme schloss und fest an sich drückte, brach Anna wieder in Tränen aus. Die Erinnerung daran, wie Tom, Marie und sie eng umschlungen auf dem Bett des Kreißsaals gelegen hatten, war einfach zu viel für sie. Sie hatten einander festgehalten und doch nicht zu verhindern vermocht, dass Marie gegangen war. Nicht viel später hatten sie sich getrennt, weil sie beide geglaubt hatten, sie könnten durch die Flucht vor dem anderen auch ihrer Trauer entfliehen, was, soviel wusste Anna heute, ein Irrtum gewesen war.
    Schließlich schob Tom sie ein Stück von sich weg, umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen und sah sie an. Auch er hatte Tränen in den Augen. Anna schluckte, als er seine Handschuhe abstreifte und mit seinen beiden Daumen überihre tränennassen Wangen fuhr. Sie waren einander mehr als ein Jahr nicht mehr über den Weg gelaufen, und doch empfand Anna in seiner Gegenwart eine Vertrautheit, als hätte sie ihn gestern zuletzt gesehen. Für eine Zeitlang standen  sie schweigend beieinander und blickten auf Maries Grab.
    »Sie wäre dieses Jahr in die Schule gekommen«, sagte Anna leise.
    »Ich weiß.« Tom drückte ihre Hand.
    »Wenn ich für Emily einkaufen gehe und mir gefällt etwas ganz besonders, schaue ich nach, ob ich es auch in der Größe finden kann, die Marie jetzt hätte. Verrückt, oder?«
    Tom schüttelte den Kopf. »Nein, kein bisschen«, widersprach er. »Seit ich Lena habe, ist es leichter, vor allem Weihnachten.«
    »Das geht mir mit Emily genaso«, bestätigte Anna. Toms Tochter war nur wenige Monate älter als Emily. Anna hatte das Mädchen nur ein einziges Mal gesehen, als sie ungefähr eineinhalb Jahre alt gewesen war. Das Kind hatte so viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater und damit auch mit der Vorstellung, die sich Anna von Marie machte, dass Anna es im ersten Moment kaum hatte ertragen können, sie anzuschauen.
    »Deine Tochter, sieht sie immer noch so aus wie du?«, fragte Anna.
    »Sie sieht mir ähnlich. Aber Marie sähe jeden Tag mehr aus wie du, glaube ich.« Er sah Anna an, deren nasse Locken unter ihrer Mütze hervorkrochen: »Vor allem hätte sie deine Haare.« Er lächelte. »Ich stelle sie mir nur weniger nass vor.«
    »Ich brauche ein Taschentuch«, schluchzte Anna lachend und weinend zugleich.
    Tom kramte ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hosentasche hervor und reichte es ihr. »Geh sparsam damit um, ich habe nur das eine.«
    Anna schnäuzte sich ausgiebig und laut, und beide mussten lachen.
    »Es ist wirklich schön, dich hier zu treffen«, meinte Anna. Merkwürdigerweise waren sie sich in all den Jahren nie auf dem Friedhof begegnet. Anna hatte sogar fast Angst davor gehabt, ihn irgendwann hier zu treffen. Nicht für eine Sekunde hatte sie daran gedacht, Bendt zu bitten, sie an diesem Tag hierher zu begleiten. Ihre Trauer um Marie war etwas, das sie nicht mit ihm teilen konnte. Vielleicht lag es daran, dass er keine eigenen Kinder hatte, und sie meinte, dass er ihre Gefühle deshalb nicht nachempfinden könne.
    »Ich finde es auch schön, dass wir uns wiedergesehen haben«, sagte Tom. Anna hatte einen Kloß im Hals. Sie sprachen es beide nicht aus, und doch wusste Anna, dass Tom genauso wie sie schon lange zu der Erkenntnis gelangt war, dass sie mit ihrer Trennung den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatten. Noch immer konnte sie in seinen Augen wie in einem offenen Buch lesen. Aber dort stand noch etwas anderes geschrieben: Dort stand, dass sie es nicht mehr ändern konnten. Dafür war zu viel passiert.
    Anna dachte einen Moment lang zurück an ihre gemeinsamen Jahre. Sie war seinerzeit sicher gewesen, ihr ganzes Leben mit ihm in dem gemeinsamen Haus am Priwall zu verbringen. Wenn sie damals aus dem Garten über das Wasser der Trave zur Lübecker Altstadt geschaut und dem Schreien

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