Schneetreiben
wusste nicht genau, warum sie das tat. Vielleicht will sie einfach nur erbärmlich frieren, um für eine Weile etwas anderes zu empfinden als Trauer, oder sie läutert sich, weil sie nicht aufhören kann, sich für Mamas Tod schuldig zu fühlen, dachte sie. Letzteres erschien Carla bei dem erschreckenden Anblick, den ihre Schwester in ihrer blaugefrorenen Nacktheit bot, besonders naheliegend.
Carla zog sich ihre Regenjacke an, nachdem sie im Haus überall erfolglos nach Hanna Ausschau gehalten hatte, und lief zu den Ställen hinüber. Es war ein trostloser Novembertag, und es schien Carla, als würde der Regen noch die allerletzten braunen Blätter von den Bäumen fegen. Früher hatten Hanna und sie sich immer auf den Herbst gefreut, wenn sie, in Gummistiefeln durch die Pfützen stapfend, Kastanien gesammelt oder sich mit dem heruntergefallenen Laub der großen Eiche vor dem Haus beworfen hatten. Erst jetzt verstand sie, was die Erwachsenen meinten, wenn sie von der dunklen Jahreszeit sprachen.
Im Stall lief Carla Hansen über den Weg. Er erkannte offenbar sofort, dass sie nach Hanna Ausschau hielt, und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist sie bei den Katzen auf dem Heuschober«, rief er ihr nach, als sie mit genau diesem Ziel auf dem Absatz kehrtmachte und wieder auf den Hof hinauslief.
Inzwischen gingen Hanna und sie seit über drei Monaten zur Schule. Carla war froh darüber, dort vormittags Ablenkung zu finden. In der Schule gelang es ihr immerhin ab und zu, fürein paar Stunden ihre Trauer zu vergessen, und sie konnte der erdrückenden Stimmung entfliehen, die zu Hause herrschte. Sie hoffte, irgendwann eine richtige Freundin zu finden. Im Moment waren Hanna und sie noch Außenseiterinnen. Die anderen Kinder schienen nicht recht zu wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollten. Sie waren nicht nur deshalb Exoten, weil sie Zwillinge waren, sondern vor allem, weil sie keine Mutter hatten. Carla fröstelte auch jetzt noch bei der Erinnerung an die Stille, die im Klassenzimmer geherrscht hatte, als Hanna und sie eine Woche nach der offiziellen Einschulungsfeier ihren Mitschülern vorgestellt worden waren. Wahrscheinlich hatte die Lehrerin die anderen vorher ermahnt, besonders nett zu ihnen zu sein, woraufhin sich gar keiner auch nur getraut hatte, ein einziges Wort zu sagen. Alle hatten Hanna und sie nur angestarrt oder betreten zu Boden geblickt. Carla wäre es lieber gewesen, sie und Hanna wären wie alle anderen am ersten Schultag zur Schule gegangen. Ihre Großmutter hatte das allerdings als untragbar empfunden. Sie hatte gesagt, dass es geschmacklos und pietätlos wäre, wenn sie an einer Einschulungsfeier teilnehmen würden. Auch wenn Carla die Bedeutung des letztgenannten Ausdrucks »pietätlos« nicht verstand, war ihr klar, dass ihre Oma die Teilnahme an der Feier als Beweis mangelnder Achtung ihrer Mutter gegenüber gedeutet hätte. Daher hatte sich Carla auch nicht getraut, sich einzugestehen, dass sie gern hingegangen wäre. Denn sie hatte allen Kindern ihre Schultüte zeigen wollen, die ihre Mutter noch vor ihrem Tod für sie gebastelt hatte und auf die sie so stolz war. Weiße, lachende Engel waren auf die mit rosa Filz beklebten Tüten gestickt gewesen, die mit Hannas und Carlas Namen versehen waren. Carla hatte nicht formulieren können, was sie empfand. Aber zur Einschulungzu gehen hätte ihr ein letztes Mal das Gefühl gegeben, ihre Mutter zu einem besonderen Anlass mitnehmen zu können. Sie hatten dieses Ereignis gemeinsam geplant und viel darüber gesprochen, und ihre Mutter hatte versichert, dass sie sich ein Leben lang an diesen Tag erinnern würden.
Noch am Abend der Beerdigung hatte es einen schrecklichen Streit zwischen ihrem Vater und ihrer Großmutter gegeben. Hanna und Carla hatten heimlich von der Treppe aus gelauscht. Ihr Vater hatte sie zur Einschulungsfeier gehen lassen wollen, damit sie beide, so gut es eben ging, zur Normalität zurückfänden. Ihre Großmutter war darüber so entsetzt gewesen, dass sie nahezu einen Herzanfall erlitten hatte. Jedenfalls hatte sie das gesagt, und ihr Vater musste nachgeben. Deshalb saßen Hanna und sie am Einschulungstag allein und weinend mit ihren Schultüten in ihrem Zimmer, und ihre Oma hatte mit ihrem Vater geschimpft. »Da kannst du sehen, wie schrecklich es für die Kinder ist, allein diese Schultüten zu bekommen. Da siehst du, wo deine Schnapsideen hinführen.«
Carla betrat den Heuschober und zog sich die nasse Kapuze vom Kopf. »Hanna«,
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