Schneewittchen muss sterben
erwiderte Tobias. »Sie sagte, es gebe jemanden, der damals alles beobachtet habe, sie erwähnte Thies und irgendwelche Bilder, auf denen auch der Lauterbach zu sehen sei.«
»Wer?«
»Gregor Lauterbach.«
»Der Kultusminister?«
»Ja, genau. Der wohnt ja direkt neben dem Haus von Amelies Vater. Er war früher der Lehrer von Laura und Stefanie.«
»Und Ihrer auch, nicht wahr?« Pia erinnerte sich an die Protokolle, die sie gelesen hatte und die danach aus den Akten verschwunden waren.
»Ja«, bestätigte Tobias mit einem Nicken. »Er war in der Oberstufe mein Deutschlehrer.«
»Was hat Amelie über ihn herausgefunden?«
»Keine Ahnung. Wie gesagt, Nadja tauchte auf, und Amelie sagte nichts mehr, nur, dass sie mir später alles erzählen wollte.«
»Was haben Sie gemacht, als Amelie gegangen war?«
»Nadja und ich haben uns noch eine Weile unterhalten, dann sind wir hierhergefahren und saßen ungefähr noch eine halbe Stunde in der Küche. Bis sie wegmusste, das Flugzeug nach Hamburg erwischen.« Tobias Sartorius verzog das Gesicht, fuhr sich durch das ungekämmte Haar. »Ich bin dann zu einem Freund gegangen. Wir haben dort mit anderen Freunden getrunken. Ziemlich viel.«
Er blickte auf. Seine Miene war ausdruckslos. »Ich kann mich leider nicht mehr daran erinnern, wann und wie ich nach Hause gekommen bin. Mir fehlen vierundzwanzig Stunden in meiner Erinnerung.«
Hartmut Sartorius schüttelte verzweifelt den Kopf. Er sah aus, als wolle er am liebsten in Tränen ausbrechen. Das Summen von Bodensteins stummgeschaltetem Handy klang überlaut in der plötzlich eingetretenen Stille. Er nahm das Gespräch entgegen, hörte zu und bedankte sich knapp. Sein Blick suchte den von Pia.
»Wann ist Ihr Sohn nach Hause gekommen, Herr Sartorius?«, wandte er sich an Tobias' Vater. Der zögerte.
»Sag ihm die Wahrheit, Papa.« Tobias' Stimme klang müde.
»Etwa um halb zwei am Sonntagmorgen«, sagte sein Vater schließlich. »Frau Dr. Lauterbach, unsere Ärztin, hat ihn nach Hause gebracht. Sie hat ihn gefunden, als sie spät von einem Notfall zurückkam.«
»Wo?«
»An der Bushaltestelle vor der Kirche.«
»Waren Sie gestern mit dem Auto unterwegs?«, fragte Bodenstein Tobias.
»Nein, ich bin gelaufen.«
»Wie heißen Ihre Freunde, mit denen Sie am Samstag zusammen waren?« Pia zückte ihren Stift und notierte die Namen, die Tobias ihr nannte.
»Wir werden mit denen sprechen«, sagte Bodenstein ernst. »Aber ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten.«
Der Einsatzleiter der Suchmannschaft hatte Bodenstein den Fund von Amelies Rucksack gemeldet. Er hatte in einem Gebüsch zwischen dem Parkplatz vom Schwarzen Ross und der Kirche gelegen – unweit der Bushaltestelle, an der Frau Dr. Lauterbach Samstagnacht Tobias Sartorius aufgegabelt hatte.
»Damals war es genauso«, sagte Pia nachdenklich, als sie die wenigen Meter zum Fundort mit dem Auto zurücklegten. »Tobias hatte Alkohol getrunken und einen Filmriss. Staatsanwaltschaft und Gericht glaubten ihm das allerdings nicht.«
»Glaubst du ihm das denn?«, fragte Bodenstein. Pia überlegte. Tobias Sartorius schien eben die Wahrheit gesagt zu haben. Er mochte das Nachbarsmädchen. Aber hatte er nicht die beiden Mädchen, die er vor zehn Jahren ermordet hatte, auch gemocht? Damals war Eifersucht im Spiel gewesen, gekränkte Eitelkeit – das konnte in Bezug auf Amelie keine Rolle spielen. Hatte das Mädchen tatsächlich etwas herausgefunden, das in direkter Beziehung zu dem Fall von früher stand, oder hatte Tobias Sartorius sich das nur ausgedacht?
»Ich kann die Sache von damals nicht beurteilen«, erwiderte sie. »Aber heute, denke ich, hat Tobias uns nicht angelogen. Er erinnert sich wirklich nicht.«
Bodenstein enthielt sich eines Kommentars. Er hatte die Intuition seiner Kollegin, die sie oft auf die richtige Fährte geführt hatte, mittlerweile schätzen gelernt, wohingegen seine eigene ihn des Öfteren hoffnungslos in die Irre geführt hatte. Dennoch: Er hielt Tobias Sartorius in den beiden alten Mordfällen und auch heute nicht für unschuldig, wie Pia das zu tun schien.
Der Rucksack enthielt Amelies Portemonnaie, ihren iPod, Schminkutensilien und allerhand Krimskrams, aber kein Handy. Eins stand damit fest: Sie war nicht von zu Hause weggelaufen, ihr musste etwas zugestoßen sein. Der Suchhund hatte auf dem Parkplatz die Spur verloren und wartete nun ungeduldig hechelnd mit seinem Führer auf den nächsten Einsatz, der für ihn ein
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