Schneewittchen muss sterben
einfach schweigen oder seinen Vater als Alibi benutzen können, wie der es ihm erst angeboten hatte. Hatte er nur darauf verzichtet, weil es schon einmal nicht funktioniert hatte?
»Ich glaube, Amelie ist auf irgendetwas gestoßen, was direkt mit dem Fall von damals zusammenhängt«, sagte sie nach einer Weile. »Und ich glaube auch, dass mehrere Leute großes Interesse daran haben, dass Geheimnisse geheim bleiben.«
»Quatsch.« Behnke schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Dieser Kerl verliert die Kontrolle über sich, wenn er säuft. Er kam von der Party, Amelie lief ihm über den Weg, und er hat sie abgemurkst.«
Pia zog die Augenbrauen hoch. Behnke neigte wie immer dazu, alles auf den einfachsten Nenner zu bringen.
»Und was hat er mit ihrer Leiche gemacht? Er hatte kein Auto dabei.«
»Behauptet er.« Behnke nickte in Richtung Tafel. »Schaut euch das Mädchen doch an.«
Automatisch wandten alle die Köpfe zu dem Foto von Amelie, das an der Wandtafel angebracht war.
»Sie sieht aus wie die Kleine, die er damals umgebracht hat. Der Typ ist krank.«
»Also gut«, entschied Bodenstein. »Frau Fachinger, kümmern Sie sich um einen Durchsuchungsbeschluss für Haus, Auto und Grundstück von Sartorius. Kai, Sie arbeiten weiter an dem Tagebuch. Alle anderen halten sich bitte zur Verfügung, wir machen morgen um 8 Uhr mit der Suche weiter und weiten den Radius aus.«
Unter dem Scharren der Stühle löste sich die Runde auf. Noch war die Stimmung gedämpft optimistisch. Der Großteil der Beamten war Behnkes Meinung und hoffte auf das Ergebnis einer Hausdurchsuchung bei Sartorius. Pia wartete, bis die Kollegen den Besprechungsraum verlassen hatten, aber bevor sie mit ihrem Chef sprechen und ihre Vorbehalte anbringen konnte, betrat Dr. Nicola Engel mit zwei Herren in Anzug und Krawatte den Raum.
»Einen Moment«, sagte sie zu Behnke, der gerade gehen wollte. Pia begegnete dem Blick von Kathrin Fachinger, sie verließen gemeinsam den Raum.
»Frau Fachinger? Sie warten bitte einen Moment draußen.« Damit schloss Nicola Engel hinter ihnen die Tür.
»So«, sagte Kathrin auf dem Flur. »Jetzt bin ich mal gespannt.«
»Wer ist das?«, fragte Pia erstaunt.
»Dienststelle Interne Ermittlung.« Kathrin wirkte ziemlich zufrieden. »Hoffentlich reißen sie dem Mistkerl mal richtig den Arsch auf.«
Erst da fiel Pia wieder die Angelegenheit mit Behnke in der Kneipe ein und Kathrins erfolglose Weigerung, mit ihm gemeinsam zu ermitteln.
»Wie hat er sich dir gegenüber eigentlich heute benommen?«, erkundigte sie sich. Kathrin hob nur die Augenbrauen.
»Dir muss ich ja wohl nichts erzählen«, antwortete sie. »Er war absolut widerlich. Hat mich vor allen Leuten runtergeputzt wie ein dummes Mädchen. Ich hab die Klappe gehalten. Nur eins sage ich dir: Wenn er wieder ungeschoren davonkommt, dann beantrage ich meine Versetzung. Ich hab auf den Typ echt keinen Bock mehr.«
Pia nickte. Sie konnte ihre Kollegin verstehen. Aber sie ahnte, dass es für Frank Behnke diesmal nicht glimpflich ausgehen würde, denn Nicola Engel hegte irgendeine alte Abneigung gegen ihn, die aus der gemeinsamen Zeit beim K 11 in Frankfurt herrührte. Es sah düster aus für Kollege Arschloch, und das tat ihr überhaupt nicht leid.
Dienstag, 18. November 2008
Die Tageszeitung lag aufgeschlagen vor ihm auf der Schreibtischplatte. Wieder war in Altenhain ein Mädchen verschwunden, und das kurz nachdem das Skelett von Laura Wagner gefunden worden war. Lars Terlinden war sich bewusst, dass man ihn in seinem gläsernen Büro vom Handelsraum und seinem Vorzimmer aus beobachten konnte, deshalb widerstand er dem Impuls, das Gesicht in den Händen zu vergraben. Wäre er doch bloß niemals nach Deutschland zurückgekehrt! In seiner Gier nach noch mehr Geld hatte er vor zwei Jahren seinen ohnehin schon hochbezahlten Job als Derivatehändler in London aufgegeben und war ins Management einer Schweizer Großbank nach Frankfurt gewechselt. Das hatte in der Szene damals für großes Aufsehen gesorgt, immerhin war er gerade 28 Jahre alt gewesen. Aber dem »German Wunderkind«, wie ihn das
Wall Street Journal
nannte, schien weiterhin alles zu gelingen – und er war der Illusion erlegen, er sei der Größte und Beste. Nun war er unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet und musste darüber hinaus seiner Vergangenheit ins Auge sehen und erkennen, was er aus Feigheit angerichtet hatte. Lars Terlinden stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine einzige,
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