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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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zukünftige Diskussion dieses Themas definiert.
    Tetlock befragte 284 Personen, die ihren Lebensunterhalt als »Kommentatoren oder Berater für politische und ökonomische Trends« verdienen. Er bat sie, die Wahrscheinlichkeiten zu beurteilen, dass bestimmte Ereignisse in nicht allzu ferner Zukunft eintreten, und zwar sowohl in Regionen der Welt, auf die sie sich spezialisiert hatten, als auch in Regionen, über die sie weniger gut Bescheid wussten. Würde Gorbatschow durch einen Staatsstreich gestürzt? Würden die Vereinigten Staaten am Persischen Golf in den Krieg ziehen? Welches Land würde das nächste große Schwellenland werden? Insgesamt trug Tetlock über 80 000 Vorhersagen zusammen. Er fragte die Experten auch, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen gelangten, wie sie reagierten, wenn sie widerlegt wurden, und wie sie Informationen bewerteten, die ihren Standpunkt nicht untermauerten. Die Befragten sollten die Wahrscheinlichkeiten dreier alternativer Ergebnisse in jedem Fall einschätzen: das Fortdauern des Status quo, mehr von einer Sache wie politische Freiheit oder Wirtschaftswachstum oder weniger davon.
    Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Die Experten zeigten eine schlechtere Leistung, als wenn sie einfach alle drei möglichen Ergebnisse mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eingestuft hätten. Anders gesagt: Menschen, die ihre Zeit damit verbringen – und ihren Lebensunterhalt damit verdienen  –, sich gründlich mit einem bestimmten Sachgebiet zu beschäftigen, erstellen schlechtere Vorhersagen als Dartpfeile werfende Affen, die ihre »Entscheidungen« gleichmäßig über alle Optionen verteilt hätten. Selbst auf dem Gebiet, das sie am besten kannten, waren Experten nicht deutlich besser als Nichtexperten.
    Diejenigen, die mehr wissen, liefern geringfügig bessere Vorhersagen als diejenigen, die weniger wissen. Aber diejenigen mit dem meisten Wissen sind oftmals weniger zuverlässig. Das ist darauf zurückzuführen, dass jemand, der mehr Wissen erwirbt, eine verstärkte Illusion von seinen Fähigkeiten entwickelt und diese in einer unrealistischen Weise überschätzt. »Wir erreichen beunruhigend schnell den Punkt eines abnehmenden prädiktiven Grenzertrags von Wissen«, schreibt Tetlock. »In diesem Zeitalter der akademischen Hyperspezialisierung gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass Personen, die Beiträge in Top-Zeitschriften publizieren – bekannte Politikwissenschaftler, Regionalwissenschaftler, Ökonomen usw. – neu auftretende Situationen besser ›lesen‹ können als Journalisten oder aufmerksame Leser der New York Times .« 8 Je berühmter
der Prognostiker, umso extravaganter waren seine Prognosen, fand Tetlock heraus. »Experten, die hoch im Kurs standen«, schreibt er, »überschätzten sich selbst stärker als ihre Kollegen, die fern des Rampenlichts ein kümmerliches Dasein fristen.«
    Tetlock fand auch heraus, dass Experten nur widerwillig zugaben, sich geirrt zu haben, und wenn sie gezwungen waren, einen Fehler zuzugeben, hatten sie jede Menge Ausreden parat: Sie hätten sich nur im Zeitpunkt geirrt, ein unvorhersehbares Ereignis sei dazwischengekommen, oder sie hätten sich zwar geirrt, aber aus den richtigen Gründen. Experten sind schließlich auch nur Menschen. Sie sind geblendet von ihrer Brillanz und hassen es, danebenzuliegen. Nicht ihre Überzeugungen, sondern ihre Art zu denken, führe sie in die Irre, so Tetlock. Er verwendet die Begriffe, die Isaiah Berlin in seinem Tolstoi-Essay »Der Igel und der Fuchs« einführte: Igel »haben den großen Durchblick« und verfügen über eine umfassende Theorie; sie erklären konkrete Ereignisse innerhalb eines kohärenten Bezugssystems, reagieren mit Unverständnis auf diejenigen, die ihre Sichtweise nicht teilen, und sind überzeugt von der Richtigkeit ihrer Vorhersagen. Fehler räumen sie nur sehr widerwillig ein. Für Igel ist eine falsche Prognose fast immer nur »zeitlich verfehlt« oder »fast richtig«. Sie sind von sich selbst überzeugt und ihrer Sache sicher, und genau das wünschen sich Sendeleiter in ihren Fernsehsendungen. Zwei Igel, die in einer Frage gegensätzliche Standpunkte vertreten, sorgen für eine unterhaltsame Show, in der jeder die idiotischen Ideen des Gegners angreift.
    Füchse hingegen denken komplex. Sie glauben nicht, dass ein großer Faktor den Marsch der Geschichte antreibt (so werden sie kaum der Auffassung zustimmen, Ronald Reagan habe im Alleingang den Kalten Krieg beendet, indem er der

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