Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Neugeborene zu schreien anfing. Ohne ein standardisiertes Verfahren wurden Gefahrenzeichen oft übersehen, und viele Neugeborene starben.
Eines Tages beim Frühstück fragte ein Assistenzarzt Dr. Apgar, wie sie den Gesundheitszustand eines Neugeborenen systematisch beurteilen würde. 10 »Das ist leicht«, antwortete sie. »Man würde folgendermaßen vorgehen.« Apgar schrieb fünf Variablen (Herzschlag, Atmung, Reflex, Muskeltonus und Hautfarbe) und drei Punktwerte auf (0, 1 oder 2, je nach der Robustheit jedes Zeichens). Als Apgar erkannte, dass sie womöglich eine bahnbrechende Entdeckung gemacht
hatte, die in jedem Kreißsaal angewendet werden konnte, begann sie, Neugeborene eine Minute nach der Geburt nach dieser Regel zu beurteilen. Ein Neugeborenes mit einer Gesamtpunktzahl von mindestens acht war rosig, strampelte, schrie, grimassierte und hatte einen Herzschlag von mindestens hundert Schlägen pro Minute – war also in einer guten Verfassung. Ein Neugeborenes mit einer Punktzahl von höchstens vier war wahrscheinlich bläulich, schlaff, passiv und hatte einen langsamen oder schwachen Puls – es musste also sofort intensivmedizinisch behandelt werden. Mit dem Apgar-Score verfügte das medizinische Team in Kreißsälen über konsistente Standards zur Beurteilung des Gesundheitszustands von Neugeborenen Die Formel gilt als ein bedeutender Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit. Der Apgar-Test wird noch heute tagtäglich in jedem Kreißsaal angewandt. Atul Gawandes jüngstes Werk A Checklist Manifesto liefert viele weitere Beispiele für den Nutzen von Checklisten und einfachen Regeln. 11
Die Feindseligkeit gegen Algorithmen
Von Anfang an reagierten klinische Psychologen mit offener Ablehnung und Ungläubigkeit auf Meehls Ideen. Was ihre Fähigkeit zur Erstellung langfristiger Prognosen betraf, erlagen sie eindeutig einer Kompetenzillusion. Bei genauerem Nachdenken ist leicht zu erkennen, wie es zu dieser Illusion kam, und man kann die Ablehnung von Meehls Forschungen durch die Kliniker leicht nachvollziehen.
Die statistischen Belege für die Unterlegenheit der Kliniker widersprechen ihren Alltagserfahrungen bezüglich der Qualität ihrer Urteile. Psychologen, die mit Patienten arbeiten, haben während jeder therapeutischen Sitzung viele Intuitionen, wobei sie antizipieren, wie der Patient auf eine Intervention reagieren wird, und abschätzen, was als Nächstes passieren wird. Viele dieser Intuitionen bestätigen sich, was ihren klinischen Sachverstand scheinbar belegt.
Das Problem ist, dass die richtigen Urteile kurzfristige Vorhersagen im Rahmen des therapeutischen Interviews umfassen – eine Fähigkeit, in der Therapeuten jahrelange Übung haben mögen. Die Aufgaben, in denen sie versagen, erfordern typischerweise langfristige Vorhersagen über die weitere Entwicklung des Patienten. Diese sind viel schwieriger, selbst die besten Formeln liefern nur recht bescheidene Resultate, und es gibt auch Aufgaben, die die Kliniker nie
richtig lernen konnten – sie müssten Jahre auf Rückmeldung warten, statt wie sonst während der klinischen Sitzung sofortiges Feedback zu bekommen. Doch die Trennlinie zwischen dem, was Kliniker gut können, und dem, was sie überhaupt nicht können, ist nicht offensichtlich, und erst recht nicht für sie selbst. Sie wissen, dass sie fachkundig sind, aber sie kennen nicht unbedingt die Grenzen ihrer Fachkunde. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Vorstellung, eine mechanische Kombination einiger weniger Variablen könne die subtile Komplexität der menschlichen Urteilskraft übertreffen, erfahrenen Klinikern offenkundig absurd erscheint.
Die Debatte über die Vorzüge klinischer und statistischer Vorhersagen hat von jeher eine moralische Dimension gehabt. Die statistische Methode, schrieb Meehl, werde von erfahrenen Klinikern als »mechanisch, atomistisch, additiv, schablonenhaft, künstlich, unwirklich, willkürlich, unvollständig, tot, pedantisch, zersplittert, trivial, gezwungen, statisch, oberflächlich, starr, steril, akademisch, pseudowissenschaftlich und blind« kritisiert. Die klinische Methode andererseits wurde von ihren Verfechtern als »dynamisch, global, bedeutungsvoll, ganzheitlich, hintergründig, teilnehmend, integrativ, strukturiert, organisiert, reich, tief, echt, gefühlvoll, differenziert, real, lebendig, konkret, natürlich, lebensecht und verständnisvoll« gelobt.
Dies ist eine Einstellung, die wir alle verstehen. Wenn ein
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