Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
quo, aber das Diagramm zeigt diesen nicht. Durch das Weglassen dieses Punktes wiegen die Theoretiker, die dieses Diagramm zeichnen, Sie in dem Glauben, der Referenzpunkt sei irrelevant, aber Sie wissen jetzt, dass er natürlich von Belang ist. Da haben wir ein weiteres Mal Bernoullis Irrtum. Die Darstellung der Indifferenzkurven geht stillschweigend davon aus, dass Ihr Nutzen zu jedem beliebigen Zeitpunkt ausschließlich von Ihrer gegenwärtigen Situation bestimmt wird, dass die Vergangenheit irrelevant ist und dass Ihre Beurteilung eines potenziellen Arbeitsplatzes nicht von den Bedingungen Ihres gegenwärtigen Arbeitsvertrags abhängig ist. Diese Annahmen sind in diesem Fall und in vielen weiteren Fällen vollkommen unrealistisch.
Das Weglassen des Referenzpunktes im Indifferenzkurvensystem ist ein überraschender Fall von theorieinduzierter Blindheit, weil wir sehr oft Fällen begegnen, in denen der Referenzpunkt offenkundig von Bedeutung ist. Bei Lohn- und Tarifverhandlungen wissen beide Seiten ganz genau, dass der bestehende Vertrag der Referenzpunkt ist und dass sich die Verhandlungen auf
wechselseitige Forderungen nach Zugeständnissen in Bezug auf diesen Referenzpunkt konzentrieren werden. Die Rolle der Verlustaversion bei Verhandlungen ist ebenfalls allgemein bekannt: Es schmerzt, Zugeständnisse zu machen. Sie haben reichlich persönliche Erfahrungen mit der Rolle des Referenzpunktes. Wenn Sie Ihren Arbeitsplatz oder Ihren Wohnort wechselten oder auch nur einen solchen Wechsel in Betracht zogen, erinnern Sie sich bestimmt, dass Sie die Merkmale der neuen Stelle oder Umgebung als Plus- oder Minuspunkte im Vergleich zu Ihrem Status quo bewerteten. Vielleicht haben Sie auch bemerkt, dass bei dieser Beurteilung Nachteile stärker zu Buche schlugen als Vorteile – die Verlustaversion war am Werk. Es ist schwer, Veränderungen zum Schlechteren zu akzeptieren. So beträgt zum Beispiel der Mindestlohn, den Arbeitslose bei einem neuen Beschäftigungsverhältnis akzeptieren würden, im Durchschnitt 90 Prozent ihres letzten Lohns, und dieser Betrag sinkt über einen einjährigen Zeitraum um weniger als 10 Prozent. 2
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie stark sich der Referenzpunkt auf Entscheidungen auswirkt, wollen wir uns das Beispiel von Albert und Ben ansehen, »hedonistischen Zwillingen«, die gleiche Präferenzen und gleiche Ausgangsjobs mit niedrigem Einkommen und wenig Urlaub haben. Ihre gegenwärtige Lage entspricht dem mit 1 gekennzeichneten Punkt in Abbildung 11. Die Firma bietet ihnen zwei bessere Stellen an und lässt sie entscheiden, wer eine Lohnerhöhung von 10 000 Dollar (Position A) und wer jeden Monat einen zusätzlichen Tag bezahlten Urlaub (Position B) bekommt. Da beide indifferent sind, werfen sie eine Münze. Albert entscheidet sich daraufhin für die Lohnerhöhung, Ben für den zusätzlichen Urlaub. Es vergeht einige Zeit, in der sich die Zwillinge an ihre neuen Arbeitsplätze gewöhnen. Dann macht ihnen die Firma das Angebot, die Stellen zu tauschen, wenn sie wollen.
Die in der Abbildung dargestellte Standardtheorie geht davon aus, dass Präferenzen im Zeitablauf stabil sind. Die Positionen A und B sind für beide Zwillinge gleich attraktiv, und sie brauchen nur einen geringen oder gar keinen Anreiz, um zu tauschen. In scharfem Gegensatz dazu behauptet die Neue Erwartungstheorie, dass beide Zwillinge auf jeden Fall vorziehen werden, auf ihren jeweiligen Positionen zu bleiben. Diese Präferenz für den Status quo ist eine Folge der Verlustaversion.
Konzentrieren wir uns auf Albert. Er befand sich anfänglich in Position 1 auf dem Graphen, und von diesem Referenzpunkt aus fand er diese beiden Alternativen gleich attraktiv:
Gehe nach A: Eine Erhöhung um 10 000 Dollar.
Oder:
Gehe nach B: Zwölf zusätzliche Urlaubstage.
Der Wechsel zur Position A verändert Alberts Referenzpunkt, und wenn er erwägt, nach B zu wechseln, hat seine Wahl eine neue Struktur:
Bleib auf A: Kein Gewinn und kein Verlust.
Oder:
Wechsle zu B: Zwölf zusätzliche Urlaubstage und eine Gehaltskürzung von 10 000 Dollar.
Sie haben gerade die subjektive Erfahrung der Verlustaversion gemacht. Sie konnten es fühlen: Eine Gehaltskürzung von 10 000 Dollar ist eine sehr schlechte Nachricht. Selbst wenn ein Gewinn von zwölf Urlaubstagen genauso eindrucksvoll war wie ein Gewinn von 10 000 Dollar, ist die gleiche Verlängerung der Urlaubszeit nicht ausreichend, um einen Verlust von 10 000 Dollar zu
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