Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
sich zweifellos für die kurze unangenehme Reizexposition entscheiden, also das erlebende Selbst des Leidenden begünstigen. Die
Entscheidungen, die Menschen für sich selbst treffen, lassen sich durchaus zutreffend als Fehlentscheidungen bezeichnen. Die Vernachlässigung der Dauer und die Höchststand-Ende-Regel bei der Beurteilung von Geschichten sowohl in der Oper als auch bei Urteilen über Jens Leben sind ebenso unhaltbar. Es ist unsinnig, ein ganzes Leben nach seinen letzten Momenten zu beurteilen oder bei der Beantwortung der Frage, welches Leben wünschenswerter ist, der Dauer keine Bedeutung beizumessen.
Das erinnernde Selbst ist eine Konstruktion von System 2. Doch die spezifischen Merkmale der Art und Weise, wie es Episoden und Leben beurteilt, sind Eigenschaften unseres Gedächtnisses. Die Vernachlässigung der Dauer und die Höchststand-Ende-Regel haben ihren Ursprung in System 1 und entsprechen nicht unbedingt den Werten von System 2. Wir halten die Dauer für wichtig, aber unser Gedächtnis sagt uns, dass dies nicht der Fall ist. Die Regeln, nach denen die Vergangenheit beurteilt wird, sind eine schlechte Richtschnur für die Entscheidungsfindung, weil die Zeit eine Rolle spielt. Dass Zeit eine letztlich begrenzte Ressource ist, ist die zentrale Tatsache unseres Lebens, doch unser erinnerndes Selbst ignoriert diese Tatsache. Die Vernachlässigung der Dauer verursacht in Verbindung mit der Höchststand-Ende-Regel eine Verzerrung, die eine kurze Phase intensiver Lust einer längeren Phase mäßigen Glücks vorzieht. Das Spiegelbild der gleichen Verzerrung lässt uns eine kurze Phase starker, aber aushaltbarer Schmerzen stärker fürchten als eine viel längere Phase mittlerer Schmerzen. Die Vernachlässigung der Dauer macht uns auch anfällig dafür, eine längere Phase leichter Unannehmlichkeit zu akzeptieren, weil das Ende besser sein wird, und sie begünstigt auch den Verzicht auf eine Gelegenheit für eine lange glückliche Phase, wenn diese mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ enden wird. Um die gleiche Idee bis zur Unannehmlichkeit zu steigern, betrachten Sie die weitverbreitete Ermahnung: »Tun Sie das nicht, Sie werden es bereuen.« Der Rat hört sich klug an, weil antizipiertes Bedauern das Verdikt des erinnernden Selbst ist, und wir neigen dazu, solche Urteile als endgültig und abschließend hinzunehmen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass die Perspektive des erinnernden Selbst nicht immer richtig ist. Ein objektiver Beobachter des Hedonimeter-Profils, der an die Interessen des erlebenden Selbst denkt, würde vielleicht durchaus einen anderen Rat geben. Die Vernachlässigung der Dauer des erinnernden Selbst, seine übertriebene Gewichtung von Höchstständen und Enden sowie seine Anfälligkeit für den Rückschaufehler führen insgesamt zu einer verzerrten Abbildung unserer tatsächlichen Erfahrungen.
Im Gegensatz dazu behandelt die nach Dauer gewichtete Konzeption des Wohlbefindens alle Momente des Lebens gleich, egal ob sie erinnernswert sind oder nicht. Einige Augenblicke werden schließlich stärker gewichtet als andere, entweder weil sie erinnernswert oder weil sie wichtig sind. Die Zeit, die Menschen in einem unvergesslichen Moment verweilen, sollte in seine Dauer einbezogen werden, was sein Gewicht erhöht. Ein Moment kann auch dadurch an Bedeutung gewinnen, dass er das Erleben nachfolgender Momente verändert. So kann zum Beispiel eine Stunde, in der man Geige übte, das Musikerleben viele Jahre später verändern – egal ob man selbst Musik macht oder nur Musik hört. In ähnlicher Weise sollte ein kurzes schreckliches Ereignis, das eine Posttraumatische Belastungsstörung verursacht, mit der Gesamtdauer des langfristigen psychischen Leids, das sie auslöst, gewichtet werden. In der nach Dauer gewichteten Sichtweise können wir erst im Nachhinein bestimmen, ob ein Moment unvergesslich oder bedeutungsvoll ist. Die Aussagen »Ich werde mich immer daran erinnern …« oder »Dies ist ein bedeutender Augenblick« sollten als Versprechungen oder Vorhersagen betrachtet werden, die falsch sein können – und es oftmals sind –, selbst wenn sie völlig ernst gemeint sind. Es ist eine gute Wette, dass viele der Dinge, von denen wir sagen, dass wir uns immer daran erinnern werden, zehn Jahre später längst vergessen sein werden.
Die Logik der Gewichtung der Dauer ist zwingend, aber sie kann nicht als eine vollständige Theorie des Wohlbefindens betrachtet werden, weil Individuen
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