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Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)

Titel: Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kahneman
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Ich empfinde zwar Mitleid mit meinem leidenden Selbst, aber nicht mehr Mitleid, als ich für einen Fremden empfinden würde, der Schmerzen leidet. So seltsam es auch erscheinen mag, ich bin mein erinnerndes Selbst, und das erlebende Selbst, das mein Leben lebt, ist für mich wie ein Fremder.
    Zum Thema »Leben als Geschichte«
     
    »Er bemüht sich verzweifelt, die Erzählung von einem Leben in Rechtschaffenheit zu schützen, die durch den jüngsten Vorfall bedroht wird.«
     
    »Die Mühe, die er für einen One-Night-Stand aufzuwenden bereit war, ist ein Zeichen der totalen Vernachlässigung der Dauer.«
     
    »Sie scheinen Ihren ganzen Urlaub für die Bildung von Erinnerungen zu nutzen. Vielleicht sollten Sie die Kamera beiseitelegen und den Augenblick genießen, auch wenn er nicht besonders erinnerungswert ist?«
     
    »Sie ist Alzheimer-Patientin. Sie kann aus ihrem Leben keine Erzählung mehr machen, aber ihr erlebendes Selbst ist noch immer empfänglich für Schönheit und Freundlichkeit.«

37. Erlebtes Wohlbefinden
    Als ich mich vor etwa 15 Jahren für die Erforschung des psychischen Wohlbefindens zu interessieren begann, fand ich schnell heraus, dass fast alles, was über dieses Thema bekannt war, auf den Antworten von Millionen von Menschen auf geringfügige Variationen einer Erhebungsfrage beruhte, die im Allgemeinen als Maß der Lebenszufriedenheit anerkannt wurde. Die Frage richtet sich eindeutig an Ihr erinnerndes Selbst, das dazu aufgefordert wird, über Ihr Leben nachzudenken:
    Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben? 1
    Da ich über die Erforschung verzerrter Erinnerungen an Darmspiegelungen und schmerzhaft kalte Hände zum Thema Wohlbefinden gekommen war, bezweifelte ich naturgemäß, dass die globale Lebenszufriedenheit ein zuverlässiges Maß des Wohlbefindens sei. Da sich das erinnernde Selbst in meinen Experimenten nicht als ein guter Zeuge erwiesen hatte, konzentrierte ich mich auf das Wohlbefinden des erlebenden Selbst. Ich behauptete, »Helen war im Monat März glücklich« sei eine sinnvolle Aussage, wenn
    sie die meiste Zeit mit Aktivitäten verbrachte, die sie lieber fortsetzen als beenden würde, wenig Zeit in Situationen, denen sie gern entfliehen wollte, und – sehr wichtig, denn das Leben ist kurz – nicht zu viel Zeit in einem neutralen Zustand, in dem ihr mehr oder minder alles egal wäre.
    Es gibt viele verschiedene Erfahrungen, die wir lieber fortsetzen als beenden würden, und dazu gehören sowohl geistige als auch körperliche Freuden. Eines der Beispiele für eine Situation, die Helen meines Erachtens gern fortsetzen würde, ist die völlige Versenkung in eine Aufgabe, die Mihaly Csikszentmihalyi »Flow« nennt – ein Zustand, den manche Künstler in ihren kreativen Momenten erleben und den viele andere Menschen erreichen, wenn sie gefesselt
sind von einem Film, einem Buch oder einem Kreuzworträtsel: In keiner dieser Situationen will man unterbrochen werden. Ich hatte auch Erinnerungen an eine glückliche frühe Kindheit, in der ich immer weinte, wenn meine Mutter mich von meinem Spielzeug wegriss, um mit mir im Park spazieren zu gehen, und abermals weinte, wenn sie mich von der Schaukel und der Rutsche wegnahm. Der Widerwille gegen jegliche Störung war ein Anzeichen dafür, dass ich sowohl mit meinem Spielzeug als auch mit den Schaukeln Spaß hatte.
    Ich schlug vor, Helens objektive Zufriedenheit exakt zu messen, so wie wir die Schmerzerfahrung der beiden Darmspiegelungspatienten gemessen hatten, indem wir ein Profil ihres Wohlbefindens in aufeinanderfolgenden Momenten ihres Lebens erstellten. Darin folgte ich Edgeworths alter Hedonimeter-Methode. In meiner anfänglichen Begeisterung für diese Methode neigte ich dazu, Helens erinnerndes Selbst als einen fehleranfälligen Zeugen des tatsächlichen Wohlbefindens ihres erlebenden Selbst abzutun. Ich vermutete, dass diese Auffassung zu extrem war, was sich auch bewahrheitete, aber es war ein guter Anfang.

Immer wieder der Faktor Zeit
    In diesem Teil des Buches sind wir immer wieder auf die Rolle der Zeit gestoßen. Es ist logisch, die Zeiterfahrung des erlebenden Selbst als eine Folge von Momenten zu beschreiben, die jeweils einen bestimmten Wert besitzen. Der Wert einer Episode – ich habe sie Hedonimeter-Summe genannt – ist einfach die Summe der Werte ihrer Momente. Aber so werden die Episoden nicht mental repräsentiert. Das erinnernde Selbst, wie ich es beschrieben habe, erzählt

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