Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
brauchen sie oft Hilfe, um zu treffenderen Urteilen und besseren Entscheidungen zu gelangen, und in manchen Fällen können politische Maßnahmen und Institutionen diese Hilfe bieten. Diese Behauptungen mögen als harmlos erscheinen, tatsächlich aber sind sie sehr umstritten. Der Glaube an die menschliche Rationalität, wie er von der bedeutenden Chicagoer Schule in den Wirtschaftswissenschaften vertreten wird, ist eng verbunden mit einer Ideologie, die es als unnötig und sogar unmoralisch betrachtet, Menschen vor ihren Entscheidungen zu schützen. Rationale Menschen sollten frei sein, und sie sollten in verantwortungsvoller Weise ihre Angelegenheiten selbst regeln können. Milton Friedman, der führende Vertreter dieser Schule, drückte seine Sichtweise im Titel eines seiner populärsten Bücher aus: Free to Choose (dt. Chancen, die ich meine ).
Die Annahme, dass Menschen rational handeln, bildet die intellektuelle Grundlage der libertären politischen Philosophie: Die individuelle Entscheidungsfreiheit soll nicht eingeschränkt werden, solange die Entscheidungen des Einzelnen andere nicht schädigen. Weiteren Rückhalt findet die libertäre Politik in der Bewunderung für die Effizienz von Märkten bei der Zuteilung von Gütern an die Konsumenten, die bereit sind, die höchsten Preise dafür zu zahlen. Ein berühmtes Beispiel für die Chicagoer Betrachtungsweise ist ein Beitrag mit dem Titel »A Theory of Rational Addiction« (»Eine Theorie rationalen Suchtverhaltens«); darin wird erklärt, wie ein rationaler Agent mit einer ausgeprägten Präferenz für starke und unmittelbare Gratifikationen die rationale Entscheidung treffen mag, zukünftige Sucht als eine Konsequenz hinzunehmen. 4 Gary Becker, einer der Verfasser dieses Beitrags, ein Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und Anhänger der Chicagoer Schule, hörte ich einmal mit einem leichten Augenzwinkern, aber nicht gänzlich scherzhaft behaupten, wir sollten die Möglichkeit erwägen, die sogenannte Fettleibigkeitsepidemie
mit dem Glauben von Menschen zu erklären, dass Diabetes schon bald heilbar sein wird. Er brachte ein triftiges Argument: Wenn wir Menschen beobachten, die sich scheinbar seltsam verhalten, sollten wir zunächst die Möglichkeit prüfen, dass sie einen guten Grund dafür haben, sich so zu verhalten. Psychologische Interpretationen sollten nur ins Feld geführt werden, wenn die Gründe unglaubwürdig werden – was Beckers Erklärung der Fettleibigkeit vermutlich ist.
In einer Nation von Econs sollte sich der Staat heraushalten und den Econs erlauben, zu tun und zu lassen, was ihnen gefällt, solange sie dadurch anderen keinen Schaden zufügen. Wenn ein Motorradfahrer beschließt, ohne Helm zu fahren, wird ein Anhänger der libertären Anschauung für sein Recht eintreten, dies zu tun. Bürger wissen, was sie tun, selbst wenn sie sich entscheiden, nicht fürs Alter vorzusorgen, oder wenn sie suchterzeugende Substanzen zu sich nehmen. Diese Position hat manchmal unangenehme Folgen: Ältere Menschen, die keine ausreichende Altersvorsorge betrieben haben, erhalten wenig mehr Mitgefühl als jemand, der sich nach dem Verzehr eines üppigen Mahls in einem Restaurant über die Rechnung beschwert. In der Debatte zwischen der Chicagoer Schule und den Verhaltensökonomen, die die extreme Form des Modells vom rationalen Agenten ablehnen, steht daher viel auf dem Spiel. Freiheit ist dabei kein strittiger Wert; alle an der Debatte Teilnehmenden sind dafür. Aber für Verhaltensökonomen ist das Leben komplexer als für diejenigen, die uneingeschränkt an die Rationalität des Menschen glauben. Kein Verhaltensökonom befürwortet einen Staat, der seine Bürger dazu zwingt, sich ausgewogen zu ernähren und sich nur erbauliche Fernsehsendungen anzusehen. Aber für Verhaltensökonomen hat die Freiheit Kosten. Diese werden von Personen getragen, die schlechte Entscheidungen treffen, und von einer Gesellschaft, die sich gezwungen fühlt, ihnen zu helfen. Die Frage, ob man Personen vor Fehlentscheidungen schützen sollte oder nicht, stellt daher für Verhaltensökonomen ein Dilemma dar. Die Ökonomen der Chicagoer Schule kennen dieses Problem nicht, weil rationale Agenten keine Fehler machen. Für Anhänger dieser Schule ist die Freiheit kostenlos.
Im Jahr 2008 taten sich der Volkswirt Richard Thaler und der Jurist Cass Sunstein zusammen, um ein Buch mit dem Titel Nudge zu schreiben, das bald zu einem internationalen Bestseller und zur Bibel
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