Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
Antworten sind nicht beliebig, und sie sind oft näherungsweise richtig. Aber manchmal liegen sie ziemlich daneben.
System 1 registriert die kognitive Leichtigkeit, mit der es Informationen verarbeitet, aber es erzeugt kein Warnsignal, wenn es unzuverlässig wird. Intuitive Antworten fallen uns schnell ein und wirken in hohem Maße überzeugend, ganz gleich, ob sie sich erworbenen Fähigkeiten oder Heuristiken verdanken. System 2 kann nicht leicht zwischen einer sachkundigen und einer heuristischen
Antwort unterscheiden. Der einzige Ausweg besteht darin, einen Gang zurückzuschalten und zu versuchen, eine eigene Antwort zu konstruieren, was es nur ungern tut, weil es träge ist. Viele Vorschläge von System 1 werden ohne nähere Prüfung beiläufig unterstützt, wie etwa bei dem Schläger-und-Ball-Problem. Auf diese Weise erwirbt System 1 seinen schlechten Ruf als Quelle von Irrtümern und kognitiven Verzerrungen. Seine Funktionsmerkmale, zu denen unter anderem die WYSIATI-Regel, Intensitätsabstimmung und assoziative Kohärenz gehören, erzeugen vorhersagbare Verzerrungen und kognitive Illusionen wie etwa den Ankereffekt, nicht regressive Vorhersagen, Selbstüberschätzung und viele weitere.
Was kann man gegen Verzerrungen tun? Wie können wir Urteile und Entscheidungen verbessern, sowohl unsere eigenen als auch jene der Institutionen, denen wir dienen und die uns dienen? Kurz gesagt: Ohne erhebliche Anstrengungen kann nichts erreicht werden. Wie ich aus Erfahrung weiß, lässt sich System 1 nicht leicht erziehen. Bis auf einige Effekte, die ich überwiegend auf mein Alter zurückführe, ist mein intuitives Denken heute noch genauso anfällig für Selbstüberschätzung, extreme Vorhersagen und den Planungsfehlschluss wie vor meinen Studien über diese Themen. Nur meine Fähigkeit, Situationen zu erkennen, in denen Fehler wahrscheinlich sind, hat sich verbessert: »Diese Zahl wird ein Anker sein …«, »Die Entscheidung könnte sich ändern, wenn das Problem neu formuliert wird …«. Und ich habe viel größere Fortschritte dabei gemacht, wenn nicht meine eigenen, dann doch die Fehler anderer zu erkennen.
Fehler, die aus System 1 hervorgehen, lassen sich prinzipiell leicht vermeiden: Man sollte die Anzeichen dafür erkennen, dass man sich in einem kognitiven Minenfeld bewegt, mental einen Gang zurückschalten und System 2 um Verstärkung bitten. So werden Sie vorgehen, wenn Sie das nächste Mal auf die Müller-Lyer-Illusion stoßen. Wenn Sie Geraden mit angesetzten Pfeilspitzen, die in verschiedene Richtungen zeigen, sehen, werden Sie die Situation als eine wiedererkennen, in der Sie Ihren Wahrnehmungen der Länge nicht trauen sollten. Leider wird diese vernünftige Vorgehensweise ausgerechnet dann am wenigsten angewandt, wenn sie am dringendsten notwendig wäre. Wir alle hätten gern eine Warnglocke, die immer dann laut läutet, wenn wir im Begriff sind, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen, aber eine solche Glocke gibt es nicht, und kognitive Illusionen sind im Allgemeinen schwerer zu erkennen als Wahrnehmungstäuschungen. Die Stimme der Vernunft mag viel leiser sein als die laute und deutliche Stimme einer fehlerhaften Intuition, und es ist unangenehm, seine Intuitionen zu hinterfragen, wenn man dem Stress einer
weitreichenden Entscheidung ausgesetzt ist. Das Letzte, was man will, wenn man in Schwierigkeiten ist, sind noch mehr Zweifel. Dies führt dazu, dass man ein Minenfeld viel leichter erkennen kann, wenn man anderen dabei zusieht, wie sie in es hineinlaufen, als wenn man es selbst tut. Beobachter sind kognitiv weniger stark beansprucht und offener für Informationen als Handelnde. Das war mein Grund dafür, ein Buch zu schreiben, das sich eher an Kritiker und Klatschmäuler wendet als an Entscheidungsträger.
Organisationen können Fehler besser vermeiden als Individuen, weil sie naturgemäß langsamer denken und die Macht haben, geordnete Abläufe durchzusetzen. Organisationen können nützliche Prüflisten erstellen und ihre Einhaltung vorschreiben, und sie können auch ausgeklügeltere Methoden wie Referenzklassen-Vorhersagen und Prä-mortem-Analysen einführen. 6 Organisationen können zumindest teilweise auch dadurch, dass sie ein ganz bestimmtes Vokabular verwenden, eine Kultur fördern, in der Menschen aufeinander aufpassen, wenn sie sich Minenfeldern nähern. 7 Welche Produkte oder Leistungen eine Organisation auch immer bereitstellt, sie ist jedenfalls auch eine Fabrik, die Urteile und
Weitere Kostenlose Bücher