Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
dass in unserem Kopf ein bemerkenswert leistungsfähiger Computer sitzt, der nach herkömmlichen Hardware-Standards nicht schnell arbeitet, aber in der Lage ist, die Struktur unserer Welt mit unterschiedlichen Arten assoziativer Verknüpfungen in einem riesigen Netzwerk verschiedener Typen von Vorstellungen zu repräsentieren. Die Aktivierungsausbreitung in der Assoziationsmaschine geschieht automatisch, aber wir (System 2) besitzen in gewissem Umfang die Fähigkeit, die Gedächtnissuche zu steuern und sie überdies so zu programmieren, dass die Wahrnehmung eines Ereignisses in der Umwelt die Aufmerksamkeit darauf lenken kann. Als Nächstes wollen wir uns eingehender mit den Stärken und Beschränkungen von System 1 befassen.
Normalität beurteilen
Die hauptsächliche Funktion von System 1 besteht darin, ein Modell unserer persönlichen Welt, in dem das repräsentiert ist, was normal in unserer Welt ist, aufrechtzuerhalten und zu aktualisieren. Das Modell ist aufgebaut auf Assoziationen, die Vorstellungen mit Situationen, Ereignissen, Handlungen und Ergebnissen verknüpfen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit gemeinsam auftreten, entweder gleichzeitig oder innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne. In dem Maße, wie sich diese Verknüpfungen bilden und verstärken, entsteht ein Netzwerk assoziierter Vorstellungen, das die Struktur von Ereignissen in unserem Leben repräsentiert, und es bestimmt unsere Interpretation der Gegenwart sowie unsere Zukunftserwartungen.
Die Fähigkeit zur Überraschung ist ein wesentlicher Aspekt unseres geistigen Lebens, und Überraschung selbst ist ein empfindlicher Indikator unseres Weltverständnisses und unserer Erwartungen an die Welt. Es gibt zwei wesentliche Spielarten der Überraschung. Einige Erwartungen sind aktiv und
bewusst – Sie wissen, dass Sie darauf warten, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt. Wenn die Stunde naht, erwarten Sie vielleicht, das Geräusch der Tür zu hören, wenn Ihr Kind aus der Schule kommt; wenn die Tür aufgeht, erwarten Sie, eine vertraute Stimme zu hören. Sie sind überrascht, wenn ein aktiv erwartetes Ereignis nicht eintritt. Viel größer dagegen ist die Kategorie der Ereignisse, die Sie passiv erwarten; Sie warten nicht auf sie, aber Sie sind nicht überrascht, wenn sie sich ereignen. Dies sind Ereignisse, die in einer Situation normal, aber nicht hinreichend wahrscheinlich sind, um aktiv erwartet zu werden.
Eine einzige Begebenheit mag eine Wiederholung weniger überraschend machen. Vor einigen Jahren machten meine Frau und ich in einer kleinen Ferienanlage auf einer Insel des Großen Barriereriffs Urlaub. Auf der Insel befinden sich nur vierzig Fremdenzimmer. Als wir zum Abendessen kamen, waren wir überrascht, als wir einen Bekannten trafen, einen Psychologen namens Jon. Wir begrüßten uns herzlich und äußerten unser Erstaunen über diesen Zufall. Jon reiste am nächsten Tag ab. Etwa zwei Wochen später waren wir in einem Theater in London. Ein Nachzügler setzte sich neben mich, nachdem die Lichter ausgegangen waren. Als in der Pause die Lichter wieder angingen, sah ich, dass mein Nachbar Jon war. Meine Frau und ich tauschten uns später darüber aus, dass uns gleichzeitig zwei Gedanken durch den Kopf gegangen waren: erstens, dass dieses Zusammentreffen ein bemerkenswerterer Zufall war als die erste Begegnung; zum anderen waren wir beim zweiten Mal erheblich weniger überrascht als beim ersten Mal. Offenbar hatte die erste Begegnung irgendwie die mentale Repräsentation von Jon in uns verändert. Er war jetzt »der Psychologe, der auftaucht, wenn wir ins Ausland reisen«. Wir (System 2) wussten, dass dies eine aberwitzige Vorstellung war, aber unser System 1 hatte dafür gesorgt, dass es uns fast normal vorkam, Jon an exotischen Orten zu begegnen. Es hätte uns viel mehr überrascht, wenn ein anderer Bekannter als Jon in einem Theater in London neben uns gesessen hätte. Nach allen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben war es viel unwahrscheinlicher, Jon in dem Theater zu begegnen als irgendeinem anderen unserer etlichen Hundert Bekannten – und doch wirkte es normaler, Jon zu treffen.
Unter bestimmten Bedingungen werden passive Erwartungen sehr schnell aktiv, wie wir bei einem anderen Zufall herausfanden. Vor einigen Jahren fuhren wir an einem Sonntagabend von New York City nach Princeton, wie wir es seit langer Zeit jede Woche taten. Unterwegs bot sich uns ein ungewohnter Anblick: Am Straßenrand brannte eine Auto. Als wir am
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