Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
umtreibt, und die Reaktion des politischen Systems wird von der Intensität der öffentlichen Stimmung determiniert. Die Verfügbarkeitskaskade hat jetzt die Prioritäten neu festgesetzt. Weitere Risiken und andere das Gemeinwohl fördernde Verwendungsweisen von Ressourcen sind in den Hintergrund getreten.
Kuran und Sunstein konzentrierten sich auf zwei Beispiele, die noch immer umstritten sind: die Love-Canal-Affäre und den sogenannten Alar-Zwischenfall. Bei der Love-Canal-Affäre im Jahr 1979 wurde durch ungewöhnlich starke Niederschläge vergrabener Giftmüll freilegt, mit der Folge, dass das Trinkwasser nicht nur faulig stank, sondern auch in gesundheitsgefährdender Weise mit
Schadstoffen belastet war. Die Bewohner der Gemeinde waren wütend und besorgt, und einer von ihnen, Lois Gibbs, bemühte sich besonders aktiv darum, das Interesse an dem Problem aufrechtzuerhalten. Die Verfügbarkeitskaskade entfaltete sich drehbuchmäßig. Auf dem Höhepunkt des Skandals berichteten die Medien täglich über Love Canal. Wissenschaftler, die behaupteten, die Gefahren würden überzeichnet, wurden ignoriert oder niedergebrüllt, ABC News strahlte eine Sendung mit dem Titel Todesboden aus, und leere, babygroße Särge wurden vor dem Parlament zur Schau gestellt. Viele Bewohner wurden auf Staatskosten umgesiedelt, und die Überwachung und sichere Entsorgung von Giftmüll wurde zur wichtigsten Umweltfrage der 1980er-Jahre. Das Gesetz, das die Sanierung von Giftmülllagerstätten anordnete, genannt CERCLA, führte zu einem Superfonds und gilt als ein Meilenstein der Umweltgesetzgebung. Es war kostspielig, und einige haben behauptet, die gleiche Summe hätte viel mehr Menschenleben retten können, wenn sie für andere Zwecke ausgegeben worden wäre. Die Meinungen darüber, was eigentlich genau in Love Canal passiert ist, gehen noch immer weit auseinander, und Behauptungen über Gesundheitsschäden scheinen sich nicht bewahrheitet zu haben. Kuran und Sunstein schildern die Love-Canal-Affäre fast als ein Pseudoereignis, während auf der anderen Seite der Debatte Umweltschützer noch immer von der »Love-Canal-Katastrophe« sprechen.
Auch bei dem zweiten Beispiel, das Kuran und Sunstein benutzten, um ihr Konzept einer Verfügbarkeitskaskade zu veranschaulichen, gehen die Meinungen weit auseinander: dem Alar-Zwischenfall von 1989, der von Kritikern der Umweltschutzbewegung auch »Alar-Hysterie« genannt wird. Alar ist eine Chemikalie, mit der Äpfel besprüht wurden, um ihr Wachstum zu regulieren und ihr optisches Erscheinungsbild zu verbessern. Die Hysterie begann mit Presseberichten, wonach die Chemikalie bei Ratten und Mäusen, die sie in gigantischen Mengen aufgenommen hatten, bösartige Tumoren verursache. Die Berichte verängstigten verständlicherweise die Öffentlichkeit, und diese Befürchtungen lösten weitere Medienberichte aus, die der Grundmechanismus einer Verfügbarkeitskaskade sind. Das Thema beherrschte die Nachrichten und produzierte dramatische Medienereignisse, wie etwa die Aussage der Schauspielerin Meryl Streep vor einem Kongressausschuss. Die Apfelwirtschaft erlitt große Verluste, da Äpfel und Apfelprodukte zu Objekten der Furcht wurden. Kuran und Sunstein zitieren einen Bürger, der sich erkundigte, »ob es sicherer ist, Apfelsaft in den Ausguss zu gießen oder ihn zur Sondermülldeponie zu bringen«. Der Hersteller nahm das Produkt vom Markt, und die FDA – die
US-Behörde für Lebensmittelsicherheit – verbot die Substanz. Spätere Forschungen bestätigten, dass der Stoff möglicherweise das Krebsrisiko ganz geringfügig erhöht, aber der Alar-Zwischenfall war zweifellos eine gewaltige Überreaktion auf ein geringfügiges Problem. Insgesamt wirkte sich der Vorfall wohl eher negativ auf die Volksgesundheit aus, weil weniger gesundheitsfördernde Äpfel verzehrt wurden.
Die Alar-Geschichte verdeutlicht eine grundlegende Begrenzung in der Fähigkeit unseres Geistes, kleine Risiken richtig zu bewerten: Entweder wir ignorieren sie ganz und gar, oder wir überschätzen sie maßlos – dazwischen gibt es nichts. 7 Jeder Vater oder jede Mutter, der/die schon einmal aufgeblieben ist, um zu warten, bis die heranwachsende Tochter, die schon längst von einer Party zurück sein sollte, heimkommt, dürfte dieses Gefühl kennen. Vielleicht wissen Sie, dass Sie eigentlich (so gut wie) keinen Grund zur Sorge haben, aber Sie können nichts dagegen tun, dass sich Ihnen Bilder von einem schlimmen Unglück
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