Schnitt: Psychothriller
zurecht. Wenn es um Menschen ging, dann brauchte sie ohnehin keine.
»Warum kommen Sie damit zu mir?«
»Weil ich daraus nicht schlau werde, ich brauche Ihre â«
»Nein, nein«, winkt sie barsch ab. »Ich will wissen, warum Sie zu mir kommen.«
»Sie sind die einzige Psychologin, die ich kenne«, sagt David schlicht. »Und weil ich Ihnen vertraue.«
»Die Tatsache, dass Sie als Kind für einige Sitzungen bei mir waren, heiÃt nicht, dass ich die Rechte Ihres Bruders mit FüÃen treten werde.«
Ihr Blick ist hart wie gefrorene Erde. David sieht beiseite. »Ich dachte, Sie sind die Einzige, die versteht, wie wichtig das für mich ist.«
Frau Dr. Esser reckt ihren kleinen drahtigen Körper in ihrem viel zu groÃen Stuhl empor. »Haben Sie die Akte gestohlen?«
»Nein«, antwortet David wahrheitsgemäÃ. Trotzdem hat er das Gefühl, dass jeden Moment die Nadel eines imaginären Lügendetektors ausschlägt und ihn der Lüge bezichtigt. Wie kann man die Wahrheit sagen und sich dabei so mies fühlen? Er hofft, dass sie nicht weiterfragt.
»Und Ihr Bruder, weià der, dass Sie die Akte haben?«
David deutet ein Kopfschütteln an.
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun? Hier geht es um ein Gewaltverbrechen im klassischen Sinne. Ich sollte wirklich die Polizei holen.«
»Das alles ist fast dreiÃig Jahre her.«
»Mord verjährt nie.«
David senkt den Blick, streift das dunkle geschnitzte Relief, das unterhalb der Schreibtischplatte den Tisch umläuft. Hirsche, Wildschweine, Hasen. Der Schreibtisch eines Jägers. Einer Jäger in . Er bereut, hergekommen zu sein. Dennoch kann er sich die Frage nicht verkneifen. »Was denken Sie? Hat Gabriel ihn umgebracht? Ich meine, er war noch ein Kind.«
»Ich bin gar nicht sicher, ob ich mich dazu äuÃern will.«
»Und wenn Sie ⦠es müssten?«
Dr. Esser seufzt. »David, ganz ehrlich, ich will nicht vor Ihren Karren gespannt werden, ganz egal, wohin Sie fahren und was Sie sich aufgeladen haben.«
»Aber?«
»Haben Sie da ein âºaberâ¹ gehört?«
David sieht unverwandt auf ihre Hände. Irene Esser hört augenblicklich auf, ihre rechte Hand zu kneten, und verschränkt die Arme. Sie blinzelt und starrt David an, als sitze sie beim Black Jack und warte auf die nächste Karte.
David schweigt und genieÃt, dass sich das Kräfteverhältnis umgekehrt hat, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
»Abgesehen davon«, sagt Dr. Esser, »habe ich noch ein ganz anderes Problem. SchlieÃlich kenne ich den Kollegen von der Conradshöhe ⦠nicht gut, aber ⦠nun ja.«
»Sie meinen«, fragt David zögerlich, »Dr. Dressler hat vielleicht nicht die richtige Behandlung â¦Â«
Dr. Esser wiegt den Kopf. Ihre bleichen Lippen sind noch schärfer konturiert als sonst, gleichzeitig wirkt sie zerbrechlich wie eine Fledermaus. »Warum glauben Sie plötzlich, dass Ihr Bruder Ihre Eltern getötet hat?«
Davids Blick verhakt sich in dem filigran geschnitzten Geweih eines Hirsches. »Ãbergeben Sie das Ganze der Polizei? Ich meine, gibt es nicht so etwas wie eine Schweigepflicht?«
Dr. Esser sieht ihn durchdringend an. »Sagen wir einfach, das hier ist ein Grenzfall. Wenn Sie offen sind, dann will ich es auch sein.«
»Keine Polizei?«
»Keine Polizei.«
David atmet auf. »Der Mann heiÃt Sarkov. Yuri Sarkov. Von ihm habe ich die Akte. Er ist â oder war â Gabriels Arbeitgeber. Er kennt ihn offenbar sehr lange. Vor ein paar Tagen kam dieser Sarkov zu mir und hat behauptet, Gabriel hätte unseren Vater erschossen.«
»Was genau hat er denn gesagt?«
David überlegt, versucht, sich an den Wortlaut zu erinnern. »Dass Gabriel unseren Vater erschossen hat, mehr nicht. Ich habe ihn gefragt, woher er das wüsste. Er meinte, er hätte die Akte gelesen, und er würde Gabriel kennen. Alles würde passen, es gäbe keinen Zweifel.«
»Haben Sie Zweifel, nachdem Sie die Akte gelesen haben?«
Davids Blick klammert sich wieder an die Tischkante, der geschnitzte Hirsch steht da und röhrt. »Er war elf. Gerade mal elf.«
»Was wäre Ihnen denn lieber?« Dr. Essers Augen bohren sich in seine.
»Wie ⦠wie meinen Sie das?«, fragt David konsterniert.
»Dass er es war oder dass er es nicht
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