Schnitt: Psychothriller
war?«
»Ich will nur Klarheit«, murmelt David voller Unbehagen.
Irene Esser seufzt und lehnt sich vor. Ihre dünnen Arme stützen sich auf den Tisch. »Dr. Dressler hat bei Ihrem Bruder Gabriel eine Schizophrenie diagnostiziert, mit wahnhaften und paranoiden Zügen, das Ganze in Folge eines schweren Traumas, dem Tod seiner Eltern.«
»Das hab ich auch gelesen, aber was heiÃt das?«
»Ich denke, dass er falschgelegen hat.«
David starrt sie verblüfft an.
»In den Berichten aus der Zeit vor der Psychiatrie ist Ihr Bruder sehr introvertiert, aber auch immer wieder sehr aggressiv, geradezu explosiv. Im Elisabethstift hat er mehrfach den Heimleiter attackiert, ist andere Jugendliche angegangen, immer mit der Begründung, jemand wollte ihm schaden oder Ihnen, seinem kleinen Bruder. Auf den ersten Blick zweifelsfrei Anzeichen von wahnhaftem und paranoidem Verhalten. Erschwerend kam noch dazu, dass er anfing, mit sich selbst zu sprechen und sich Luke zu nennen. Kein Wunder, dass Dr. Dressler wie selbstverständlich auf Schizophrenie kam.«
»Aber warum glauben Sie, dass die Diagnose falsch ist?«
Dr. Esser lächelte dünn. »Aus heutiger Sicht würde ich sagen, er hatte vielmehr eine posttraumatische Belastungsstörung und eine schizoide Persönlichkeitsstörung.«
David sieht sie verständnislos an. »Schizoide Persönlichkeitsstörung und Schizophrenie? Hört sich an wie zwei Namen für dieselbe Sache.«
»Eben da liegt das Problem. Zunächst einmal hatte Gabriel wahrscheinlich eine schwerwiegende posttraumatische Belastungsstörung. Aber die zugrundeliegende Ursache für das Trauma wurde falsch eingeschätzt. Nehmen Sie beispielsweise die Tonbandaufzeichnung vom 7. Mai â86. Wenn man die dokumentierten Wahnvorstellungen von Gabriel nicht als Paranoia oder Wahnvorstellung deutet, sondern davon ausgeht, dass sie Flashbacks sind, also echte Erinnerungen an etwas, das wirklich geschehen ist, dann ergibt sich plötzlich ein ganz anderes Bild.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, stellen Sie sich vor, zu Ihnen wird ein Patient gebracht, der immer wieder aggressiv wird. Sie wissen von ihm, dass er vor einigen Jahren seine ermordeten Eltern aufgefunden hat, und dann brannte sein Zuhause auch noch vollständig ab. Nun redet der Patient ständig mit sich selbst und wittert an jeder Ecke eine Verschwörung, die sich gegen ihn selbst und seinen Bruder richtet. Was läge da näher, als dieses aggressive Verhalten seiner Ohnmacht zuzuschreiben. Wer wollte dem Patienten verübeln, dass er alles um sich herum als feindlich erlebt. SchlieÃlich hat jemand seine Eltern getötet und seine ganze Welt niedergebrannt, richtig?«
»Ja. Zweifellos.«
»Sehen Sie. Schon haben Sie einem Patienten eine Paranoia attestiert. Und alles, was er ab jetzt sagt, wird in diese Rubrik eingeordnet.«
David nickt langsam.
»Denken Sie noch einmal an die Transkription der Tonbandaufzeichnung vom 7. Mai. Sie haben einen Patienten mit einer Paranoia vor sich, und der beginnt nun, unzusammenhängend gegen einen Gesprächspartner anzureden. Es hört sich geradezu an, als würde er bedroht. Und dann spricht er auch noch davon, einen Revolver in der Hand zu halten. Er erzählt, dass er abdrückt, dass er jemanden trifft, dass sein Vater dabei ist und auÃerdem noch ein ominöses Monster. Was würden Sie aufgrund der Vorgeschichte wohl denken?«
»Ich würde denken«, antwortet David gedehnt, »dass er sich etwas zusammenspinnt.«
»Warum sollte er das tun?«
»Vielleicht weil er sich schuldig fühlt, weil er seinen Eltern nicht helfen konnte. Vielleicht wünscht er sich, dass er eine Waffe gehabt hätte.«
»Schuldgefühle. Sehr gut. Vielleicht würden Sie sogar denken, dass er, weil er nicht helfen konnte, das Gefühl hat, dass er seinen Vater â sozusagen â erschossen hat, auch wenn er real nie die Waffe auf ihn gerichtet hat.«
David sieht sie schweigend an, hängt an ihren Lippen.
»Das jedenfalls hat wohl Dr. Dressler gedacht. Er hat gedacht, dass Gabriel unter Wahnvorstellungen leidet und dass er schizophren ist. Also hat er ihn anfangs mit Elektroschocks behandelt.«
»Elektroschocks?«, fragt David entsetzt.
»In der Akte ist das als Krampftherapie vermerkt.«
»O mein Gott.«
»Heutzutage wäre das weniger schlimm, solche
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